100 Millionen Kerne

/ Kurt Bracharz

Die deutsche Linke tut sich schwer mit dem Fall Ai Weiwei. Wobei mit ‘Fall’ sein Steuerfall gemeint ist, denn die chinesischen Behörden werfen dem Aktionskünstler Steuerhinterziehung vor. Was vielen nur als Ausrede für einen Akt politischer Repression erscheint, könnte einen realen Hintergrund haben.

Ende März äußerte Ai Weiwei die Absicht, in Berlin ein 4800 qm großes Atelier für einen Millionenbetrag kaufen zu wollen. Am 3. April wurde er am Pekinger Flughafen verhaftet. Danach gab es lange Zeit keine Auskunft über seinen Aufenthaltsort. Am 22. Juni gab die Nachrichtenagentur Xinhua seine Freilassung bekannt. Ai Weiwei fuhr mit einem Taxi zu seiner Wohnung im Künstlerbezirk und erklärte, dass die Staatssicherheit ihm für mindestens ein Jahr jede Stellungnahme verboten habe.

In der Tate Gallery kann man seit Herbst letzten Jahres 100 Millionen Sonnenblumenkerne aus Porzellan sehen, die Ai Weiwei vom Unilever Konzern finanziert in China herstellen ließ.

Der Künstler hatte am 3. April bei einer Auktion in Hongkong den größten Sammler zeitgenössischer Kunst aus China, den Luzerner Uli Sigg, treffen wollen. Dieser ehemalige Schweizer Botschafter in Peking ist heute Verwaltungsrat bei Ciba und Schindler, Vizepräsident bei Ringier und Berater der China Development Bank sowie der Tate Gallery. Den ‘Berliner Aufruf’ zur Freilassung von Ai Weiwei hat der Ex-Präsident des Bundesverbandes der Deutschen Industrie Hans-Olaf Henkel initiiert.

Angesichts solcher Paten versteht man den Schriftsteller Wladimir Kaminer, der in ‘konkret’ 6/11 schrieb: ‘In der Sache mit dem verhafteten chinesischen Künstler Ai Weiwei ist mir noch immer unklar, ob er eine ehrliche Haut ist, ein Don Quijote, der sich furchtlos mit dem blutrünstigen chinesischen Regime anlegt, oder ein professioneller, in Amerika ausgebildeter Dissident, der als Diversant in seine alte Heimat geschickt wurde, um das Land mit seiner Aktionskunst in Unruhe zu stürzen (…). Wahrscheinlich ist er beides, und er tut beides gut.’