Die Akte ist noch nicht geschlossen

/ Kurt Bracharz

Der St. Galler Polizeihauptmann Paul Grüninger (27. 10. 1891 – 22. 2. 1972) ermöglichte durch Dokumentenfälschungen von Herbst 1938 bis Frühjahr 1939 einer je nach Quelle zwischen ‘mehreren hundert’ und 3600 schwankenden Anzahl von jüdischen Flüchtlingen die illegale Einreise in die Schweiz. Er wurde deshalb am 3. April 1939 vom Dienst suspendiert und 1940 wegen Amtspflichtverletzung und Urkundenfälschung zu einer geringfügigen Geldstrafe verurteilt.

1971 wurde er von Israel in die in Yad Vashem geführte Liste der ‘Gerechten unter den Völkern’ aufgenommen. 1993 wurde er in der Schweiz politisch rehabilitiert, 1995 hob das Bezirksgericht St. Gallen das Urteil gegen ihn auf, 1998 bezahlte die Kantonsregierung eine Entschädigung an die Nachkommen des verarmt Gestorbenen. 2013 ist über Grüninger nach drei Büchern, einem Theaterstück und einem Dokumentarfilm der Spielfilm ‘Akte Grüninger’ (R: Alain Gsponer, B: Bernd Lange, D: Stefan Kurt, Robert Hunger-Bühler, Anatole Taubmann) gedreht worden, der drei Tage nach Erscheinen dieses Beitrags bei der Eröffnung der Solothurner Filmtage offiziell vorgestellt werden wird, den aber selbstverständlich verschiedene Journalisten bereits gesehen und besprochen haben.

In der ‘Schweiz am Sonntag’ der ‘az Solothurner Zeitung’ vom 19. Jänner schreibt Pascal Blum: ‘Dafür thematisiert ‘Akte Grüninger’ des Hauptmanns angebliche Nazi-Sympathien und weist darauf hin, dass es Möglichkeiten gab, sich an den Flüchtlingen zu bereichern. Damit das alle verstehen, trägt Alain Gsponer dick auf.’

Damit ist ein Thema angeschnitten, das zum Beispiel in der aktuellen Wikipedia-Eintragung für Grüninger mit keinem Wort erwähnt wird, nämlich der vor allem von Shraga Elam geäußerte Verdacht, Grüninger sei kein Fluchthelfer aus humanitären Gründen, sondern aus finanziellen Erwägungen für die Nazis tätig gewesen, die 1938 daran interessiert waren, die unter Zurücklassung ihrer Vermögen vertriebenen Juden ‘loszuwerden’ – von Vernichtung war da noch keine Rede, die ‘Endlösung’ wurde erst 1942 durch die Wannseekonferenz in Gang gesetzt.

Rico Bandle schreibt in der ‘Weltwoche’ vom 9.1.2014: ‘Zum Teil wurden die österreichischen Juden von den Nazis bis nach Feldkirch an die Schweizer Grenze gefahren, sämtliche Wertsachen wuden ihnen abgenommen, dann auf Nimmerwiedersehen verjagt. Es sind Fälle dokumentiert, bei denen die Gestapo den Flüchtlingen gar jene Stellen an der Grenze zeigte, wo sie am leichtesten illegal in die Schweiz kommen konnten.’

Der in Zürich lebende israelische Journalist Shraga Elam hat in seiner 2003 erschienenen Broschüre ‘Paul Grüninger – Held oder korrupter Polizist und Nazi-Agent?’ zusammengetragen, was gegen die Anschauung von Grüninger als einem ‘Gerechten unter den Völkern’ spricht. Die Broschüre steht im Netz, kann auch heruntergeladen werden, und ist nicht nur deshalb eine interessante Lektüre, weil Wikipedia ihre Existenz (und natürlich auch ihre Argumentation) unter dem Stichwort ‘Grüninger’ verschweigt.