Etikette für Attentatsopfer

/ Kurt Bracharz

Jeder Schreiber, der sein kleines Archiv noch mit Printmedien füttert, kennt das Phänomen: Man will ein bestimmtes Buch aus dem Regal oder – im noch schlechteren Fall – aus einem Stapel nehmen und glaubt ganz sicher zu wissen, wo man hinlangen muss – aber das Buch ist nicht dort, wo man es seit Langem vermutete. Und es ist auch sonst nirgendwo auffindbar. Noch viel schlimmer ist es mit Zeitungen. Ich habe die mit mich interessierenden Informationen teils in vollständigen Exemplaren der Zeitung, teils als Ausrisse aufbewahrt. In den Ausrissen findet man mit Sicherheit nicht mehr, was man sucht, wenn man sie nicht sorgfältigst alphabetisch geordnet (aber dann mit dem Problem der Stichwortzuweisung) aufbewahrt. Die Ordner nehmen viel Platz weg. Und die Stapel ganzer Zeitungen noch mehr, bevor man sie irgendwann endgültig ungelesen wegschmeißt.

Wozu nun diese Präambel? Nun, es ist Sonntagabend, diese Kolumne erscheint Montag Früh, ich habe den halben Nachmittag damit verbracht, zwei Quellen zu einem Text zu suchen, auf den ich ungern verzichten würde. Die eine Meldung stand in der „Presse“, die andere im Schweizer „Beobachter“. Ich habe (gottseidank nicht allzu große) Stapel beider Publikationen durchgesehen, aber die Meldungen nicht wiedergefunden. Vermutlich liegt es an meinem Gedächtnis, bei der „Presse“ als der einen Quelle bin ich mir zwar immer noch sicher, aber vielleicht war die zweite eine andere Schweizer Zeitung. Jedenfalls muss ich jetzt ohne die konkreten Zeit- und Ortsangaben auskommen (es war alles vor etwa einem Monat), und ab hier steht der geplante Text ohne detaillierte Fakten.

Falls Sie in der nächsten Zeit vor eine U-Bahn oder einen Zug gestoßen werden und das überleben, habe ich hier zwei interessante Informationen für Sie. In Österreich ist ein Schizophrener, der einen Mann vor die U-Bahn gestoßen hatte, zu Sicherheitsverwahrung verurteilt worden. Das Opfer hat überlebt, es musste ihm aber ein Bein amputiert werden. Nach dem Urteilsspruch bat der Täter um Entschuldigung und umarmte das Opfer, das die Entschuldigung angenommen hatte und mit der Umarmung einverstanden war. Das wirft eine Frage für die Benimm-Kolumnen mancher Zeitungen auf: Muss man jemanden umarmen, der einen ein Bein gekostet hat? Der bekannte Backpfeifen-Spruch aus den Neuen Testament ist kaum anwendbar, aber vielleicht gibt es ja ein apokryphes Evangelium, in dem es heißt: Wenn dir jemand ein Bein ausreißt, halte ihm das andere hin.

Allerdings handeln die meisten Menschen heute nicht mehr nach biblischen und außerbiblischen alten Schriften, und ich denke, verziehen hätte ich dem Mann pro forma, wenn’s seiner Therapie nützt, aber Umarmen, nein, man kann’s auch übertreiben mit der Gutwilligkeit. Schizophrenie gibt’s übrigens in der modernen Psychiatrie nicht mehr, nur noch verschieden starke „Störungen“, die sich zu Syndromen bündeln können, aber in der (verschwundenen) Pressemeldung stand es so.

In der Schweiz ging es vor Gericht auch darum, dass eine Person von jemandem ihr völlig Fremden vor einen Zug gestoßen wurde, aber der Prozess wurde von den Angehörigen des Opfers gegen die Bahn geführt und der Richter kam zu einem verblüffenden Ergebnis: Die Bahn müsse mehr für die Sicherheit an Bahnsteigen tun. Man fragt sich, was das sein könnte, vielleicht ist es im Urteil ausgeführt, die Meldung enthielt es nicht. Wenn man an einem Bahnsteig steht und auf den einfahrenden Zug wartet, wird man immer jemanden finden, der nah genug am Gleis steht, dass man ihn im letzten Moment überraschend vorwärts stoßen kann – natürlich nur, wenn man „schizophren“ ist. Was könnte die Bahn da tun? Eine effektive Maßnahme ist schwer vorstellbar, der Bahnsteig muss frei zugänglich sein und ein Zug hat immer einen relativ langen Bremsweg. Die SBB wurde jedenfalls zu einer Schadenersatzleistung verurteilt, aber wohl nur in der ersten Instanz. Wenn mir die Meldung wieder auf dem Schirm auftaucht, liefere ich die exakten Daten nach.