Glücklich ist, wer vergisst

/ Kurt Bracharz

In deutschen Literatenkreisen hat Tilman Jens’ Artikel ‘Vaters Vergessen’ in der ‘Frankfurter Allgemeinen Zeitung’ vom 4. März heftige Emotionen ausgelöst. Er beschrieb die Demenz von Walter Jens, Jahrgang 1923, Mitglied der Gruppe 47, ehemaliger deutscher PEN-Präsident, Ehrenpräsident der Berliner Akademie, deutscher Rhetor und Publizist.

Auch Schriftsteller, die von Walter Jens’ literarischen Leistungen wenig bis gar nichts hielten (die meisten der nächsten Generation), ärgerten sich über Sätze wie diese: ‘Ich denke an den alten Mann in Tübingen, der nachts durchs eigene Haus irrt und sein Bett nicht mehr findet. Er hat die Orientierung verloren. (…) Sein Gedächtnis ist taub, die Sprache versiegt. Die Blicke sind hohl und verloren. (…) Walter Jens, mein Vater, ist dement. Meine Mutter, mein Bruder und ich sind uns einig, wir wollen, wir werden sein Leid nicht verstecken.’

Sondern zu seinem 85. Geburtstag in der FAZ publik machen. Einschließlich der Frage, ob das Vergessen nicht ‘auch eine Flucht vor der Wahrheit über sich selbst’ sei. Walter Jens ist nämlich im Sommer 1942 im Alter von 19 Jahren in die NSDAP eingetreten und hat das seiner Familie und der Öffentlichkeit verschwiegen, bis im Herbst 2003 die Karteikarte 9265911 aus dem Bundesarchiv in Berlin-Lichterfelde auftauchte.

Bei unbefangener Lektüre macht Tilman Jens’ Artikel den Eindruck, als sei es ihm weniger um seines Vaters Demenz als vielmehr darum gegangen, jene noch einmal namentlich aufzuzählen, die ihre Parteimitgliedschaft verschwiegen haben (Siegfried Lenz, Dieter Hildebrandt, Hermann Lübbe, Erhard Eppler), und jene, die es stattdessen mit Schönreden versuchen (Hans-Dietrich Genscher, Graf Lambsdorff, Hans-Jochen Vogel, Günter Grass).

Tilman Jens lobt Barbara Rütting (Jahrgang 1927), die heute dazu steht, mit 17 Jahren ‘von Kopf bis Fuß Nazisse’ gewesen zu sein. Er selbst sagte im Rundfunk zum FAZ-Artikel: ‘Es ist kein Nachruf, es ist ein Nachdenken über meinen Vater, den ich über alles liebe.’