Über selektive Wahrnehmung

/ Kurt Bracharz

Das Pogrom am 14. März … die große Friedhofsschändung am 6. April … ja, beide im Jahre 2008 … wie, Sie wissen nicht so recht, wo das gewesen sein soll? Am 14. März wurden Schaufenster eingeworfen, Menschen getötet, ihre religiösen Stätten angezündet. Das kommt zwar in allen möglichen Ländern vor, aber vielen unserer Medien schien es doch eher unerfreulich, dass die Tibeter die regionale Minderheit der Hui (0,35 % der Gesamtbevölkerung) derart massiv bedrängten, also beschränkten sie sich auf die Nachricht vom anti-chinesischen Aufstand.

Am 6. April wurde der große Soldatenfriedhof von Notre-Dame de Lorette bei Arras in Nordfrankreich geschändet, auf 148 Gräber von im 1. Weltkrieg Gefallenen wurden Hakenkreuze und Parolen geschmiert, und ein Schweinskopf war auch auf dem Friedhof deponiert worden. Von den nicht-französischen Zeitungen brachte beispielsweise der ‘Herald Tribune’ den Vorfall auf der ersten Seite, in den österreichischen habe ich nichts davon gesehen (ich kann aber natürlich auch nicht alle lesen, eine kleine Notiz auf Seite 5 wird es da und dort schon gegeben haben). Wenn man böswillig wäre, könnte man meinen, das hätte vielleicht auch damit zu tun, dass es in beiden Fällen um Moslems ging.

Die Hui und auch andere Moslems wie die Salar leben seit langem keineswegs friedlich mit den Tibetern zusammen, wobei es in dem dünn besiedelten Land freilich eher Schlägereien und Messerstechereien gab als größere Auseinandersetzungen. Die Tibeter sind immer noch Bauern und Nomaden, die muslimischen Minderheiten stellen die Händler und Geschäftsleute (wobei sie über die Jahrhunderte in diese Rolle gedrängt wurden, weil die Tibeter Handel als eine niedere Beschäftigung ansahen). Am 6. April wurden die Moscheen in Lhasa und Xiahe in Brand gesteckt.

Für Frankreich kämpften im 1. Weltkrieg 600.000 Mann Kolonialtruppen, vor allem aus Tunesien und Algerien. Die Zahl ihrer Gefallenen beläuft sich auf ca. 78.000. Die Friedhofsschändung vom 6. April war nicht die erste.