Migration und Ignoranz

/ Kurt Bracharz

Das Zürcher Obergericht hat im Juni in zwei Strafsachen Urteile gefällt, deren Fälle nichts miteinander zu tun, aber einen gemeinsamen Nenner haben. Im einen Fall ging es um die Berufungsverhandlung eines 32-jährigen Rom aus dem Kosovo, der wegen sexueller Handlungen mit einem Kind zu einer bedingten Geldstrafe von 2250 Franken verurteilt worden war. Sein Pflichtverteidiger hatte berufen, weil seinem Mandanten jedes Unrechtsbewusstsein fehle und er deshalb freigesprochen werden müsse.

Der Rom, ein Analphabet, dem der Dolmetscher die Fragen des Gerichts noch einmal auf einfachstes Niveau herunterbrechen musste, damit er wenigstens irgend etwas verstand, hatte 1999 eine Vierzehnjährige aus einer Schweizer Roma-Sippe geheiratet, auf traditionelle Art, also mit erstmaligem Sehen der Brautleute am Hochzeitstag und sexuellem Vollzug am ersten Abend. Im Kosovo kümmert das keine Behörde, und keines der mit der Angelegenheit befassten Gerichte bezweifelte, dass der als Asylwerber in die Schweiz gekommene Rom tatsächlich keinen Schimmer hat, dass es in seinem Asylland diesbezüglich Normen und Gesetze gibt. Das Obergericht bestätigte das Ersturteil, der Verteidiger will jetzt ans Bundesgericht.

Ein paar Tage später wurden bedingte Freiheitsstrafen über ein somalisches Ehepaar verhängt, das 1996 im Zürcher Oberland einer seiner Töchter von einem somalischen Wanderbeschneider die Klitoris entfernen lassen hatte. Die Mutter erfuhr erst zwei Jahre später in der Frauengruppe der Zürcher Moschee, dass es unbeschnittene Frauen gibt und dass diese Verstümmelung keine Forderung des Islams, sondern ein afrikanisches Ritual ist. Als die Sache 2007 aufkam, waren beide Eheleute geständig und reuig; ihre jüngeren Töchter sind auch nicht mehr beschnitten worden.

Im Falle des Rom erklärte der vorsitzende Richter: ‘Migranten müssen sich einigermaßen mit den kulturellen, gesellschaftlichen und rechtlichen Verhältnissen in dem Land vertraut machen, in das sie aus eigenen Stücken eingereist sind.’