Rotiert Börne im Grab?

/ Kurt Bracharz

Er habe ‘eine ganze Ära der deutschen Literatur entscheidend’ mitgeprägt, die deutsche Literatur von seinem Zimmer bei der FAZ aus ‘regiert’ und sei als ‘Repräsentant des literarischen Lebens in diesem Land’ nach wie vor das ‘Staatsoberhaupt der literarischen Republik’. Viele hätten ihm Großes zu verdanken, etwa Heinrich Böll den Nobelpreis oder der Buchhandel ‘ganze Bibliotheken von Bestsellern’. Wie Gott vor ‘einem Lehmklumpen namens Adam’ sei er vor den Manuskripten der Beiträger gesessen und habe ihnen den Atem eingehaucht.

Wer solche Lobredner hat, braucht keine Feinde mehr, aber es gab am 6. Juni 2010 bei der Verleihung des Börne-Preises an den 90-jährigen neunfachen Ehrendoktor und Träger des Großen Verdienstkreuzes mit Stern der Bundesrepublik Deutschland Marcel Reich-Ranicki auch etwas geistreichere Reden als die oben zitierte von Frank Schirrmacher, etwa die von Thomas Gottschalk, der Reich-Ranicki zu Recht einen ‘begnadeten Entertainer’ nannte, oder jene von Henryk M. Broder, der sagte, der 90. Geburtstag sei der tipping point, an dem Wasser in Wein, Missgunst in Zuneigung, Neid in Anteilnahme und Hass in Liebe umschlagen.

Man müsste John Irving fragen, ob es ihm auch so ergeht, schließlich hat er, der als Amerikaner freilich nicht zur von RR regierten deutschen Literatur gehört, 1999 seine Meinung unmissverständlich formuliert: ‘Ich habe genug gesagt zu diesem kulturlosen Arschloch.’ Oder Sigrid Löffler, die 2002 schrieb: ‘Unter der Rolle des Kreischerkönigs in der Glotze hat die Dignitätsrolle des Kritikers gelitten. (…) Es mag ja sein, dass er kein bedeutendes Talent je erkannt, entdeckt und gefördert hat, mit Ausnahme Wolfgang Koeppens, Peter Maiwalds und Ulla Hahns; dafür sind die Autoren, die er verkannt und mit Fehlurteilen bedacht hat, Legion. (…) Die meisten Schriftsteller haben die Macht dieses Kritikers gefürchtet, die wenigsten haben ihn geachtet.’

Aber alle haben ihn gerne parodiert, was auch Ungeübten leicht fiel. Es war immer ganz ‘gräthlich’!