Sarrazins Juden-Gen

/ Kurt Bracharz

Die paar sachlichen Fehler, die Thilo Sarrazin in seinem Buch gemacht hat, sind bedauerlich, weil sie seinen Gegnern die Möglichkeit gaben, vom Eigentlichen seiner Thesen abzulenken und ihn auf Nebenschauplätzen erfolgreich zur Schnecke zu machen. Sein dümmster Fehler war wohl, von einem ‘jüdischen Gen’ zu sprechen. Dass es ein solches einzelnes, definierendes Gen nicht gibt, weiß jeder, der die Grundbegriffe der Genetik verstanden hat. Die Natur bastelt (wie es Jacques Monod ausgedrückt hat), d. h. sie kombiniert vorhandenes Material neu.

Alle Exemplare von Homo sapiens entstammen demselben Genpool, wobei sich im Laufe der Menschheitsgeschichte typische Genmuster in den verschiedenen Haplogruppen (für die man früher ein unwissenschaftliches Wort hatte) entwickelten. Sarrazin, der diesen Mechanismus vielleicht nicht begriffen hat, bezog sich auf eine Studie des Teams von Harry Ostrer im ‘American Journal of Human Genetics’ im Juni 2010, die behauptete, alle Juden weltweit seien relativ eng miteinander verwandt. Die Genanalysen von Juden in den USA, Athen, Rom und Israel waren mit denen von Nicht-Juden verglichen worden; sie wiesen so viele Gemeinsamkeiten auf, dass die Juden als eigenständige Gruppe der Weltbevölkerung aufgefasst werden können.

Dieses Ergebnis wurde vor allem von den Orthodoxen begrüßt, die schon immer diese Ansicht vertreten hatten, denen aber von Wissenschaftern widersprochen worden war, die eine Diaspora nach der Zerstörung des Zweiten Tempels als einen von deutsch-jüdischen Historikern des 19. Jahrhunderts erfundenen Mythos ansahen. Beispielsweise hält Shlomo Sand in seinem Buch ‘Die Erfindung des jüdischen Volkes’ die Ostjuden für die Nachkommen des zum Judentum bekehrten Turkvolks der Chasaren. Eine Bestätigung der Ostrer-Studie durch eine weitere Untersuchung mit mehr als nur 655 Probanden würde diese Anschauung klar widerlegen.

Mit Sarrazins durchaus diskutablen Thesen zu den Folgen des Geburtenrückgangs der Deutschen hat das aber nichts zu tun.