Wer steckt hinter Lockerbie?

/ Kurt Bracharz

Wer in den 1980er Jahren die Spionageromane von Brian Freemantle las, konnte sich für einen Kenner des Genres halten: Der 1936 in Southampton geborene Journalist schrieb stilistisch weniger literarisch und inhaltlich viel spannender als etwa John Le Carré und vermittelte immer den Eindruck, er wisse wirklich Bescheid zumindest über die Vorgehensweise der britischen und russischen Auslandsgeheimdienste.

Mit Ian Flemings James Bond-Märchen hatten die Charlie-Muffin-Romane kaum etwas zu tun, Freemantles MI6-Mann hatte keine Lizenz zum Töten, sondern eine zum Denken. Seine Analysen beispielsweise der Aussagen von Überläufern konnten allerdings tödliche Folgen haben, aber immer auf vertrackte Art, nicht im dumpfen Hau-Drauf.

Liebhaber von Action der grellen Art griffen wohl eher zu einer Serie dünner Taschenbücher mit einem gewissen Malko als Helden der ganz alten Schule. Der Autor dieser Romane hieß Gérard de Villiers, er war nach seiner Militärzeit als Offizier im Algerienkrieg ebenso wie Freemantle Auslandskorrespondent für große Zeitungen gewesen, bis er freier Schriftsteller wurde. Wer den Realismus von Freemantle oder Le Carré schätzte, konnte mit Villiers plumper Pulp Fiction (im Deutschen wurde das Genre früher als ‘Schmutz und Schund’ bezeichnet) nichts anfangen.

Und jetzt, am 2. Februar 2013, macht die ‘International Herald Tribune’ mit einer Titelgeschichte ‘Fictional Spy, true secrets’ auf, in der behauptet wird, Villiers Romane würden wegen der in ihnen enthaltenen hochwertigen Insider-Informationen von echten Geheimdienstlern auf drei Kontinenten mit größtem Interesse gelesen. Der 1929 in Paris geborene Villiers soll erstklassige Beziehungen zu den französischen Geheimdiensten unterhalten und von ihnen in den letzten Jahren in zunehmendem Ausmaß mit Geschichten gefüttert worden sein, die ohne Hinweis auf ihre Herkunft an die Öffentlichkeit gelangen sollen. Die konventionellen, meistens simplen und stets sexistischen Handlungen von Villiers’ Romanen verdecken mit Autoverfolgungsjagden, mordenden Vamps und ähnlichen Versatzstücken die Korrektheit der Hintergrundinformationen.

Der im Vorjahr publizierte Roman ‘Le Chemin de Damas’ beispielsweise enthält nicht nur präzise Charakterskizzen von Baschar und Maher al-Assad, sondern schildert auch ein Attentat auf eine Kommandozentrale nahe dem Präsidentenpalast in Damaskus. Einen Monat nach Erscheinen des Romans wurden bei einer Attacke auf genau diesen Ort mehrere Spitzenleute des Regimes getötet. In ‘Les Fous de Benghazi’ wurde sechs Monate vor der Ermordung des US-Botschafters Stevens die damals streng geheim gehaltene CIA-Zweigstelle in Benghasi beschrieben. Die ‘Herald Tribune’ nennt als weiteres Beispiel für eingetroffene Vorhersagen von Villiers einen Roman von 1980, in dem er ein Jahr vor dem tatsächlichen Attentat den ägyptischen Präsidenten Anwar al-Sadat von Islamisten ermorden ließ.

Besonders interessant ist Villiers nächster Roman, in dem er Lockerbie zum Thema machen wird. Er vertritt nämlich die Ansicht, dass Iran und nicht Libyen hinter dem Attentat steckte, das eine Vergeltungsaktion wegen des Abschusses eines iranischen Flugzeugs durch die Amerikaner gewesen sei. Die Iraner hätten Muammar al-Gaddafi überredet, vor der Welt die Verantwortung zu übernehmen. Der Verfasser des ‘Herald Tribune’-Leitartikels, Robert F. Worth von ‘The New York Times Magazine’, merkt dazu an, es gebe zwischen CIA und FBI eine heftige Kontroverse über die wahre Täterschaft und die Hinweise auf den Iran seien als streng geheim klassifiziert und könnten vor Gericht nicht verwendet werden. Gut möglich, dass französische Agenten mehr wissen.