Plutonium oder TNT?

/ Kurt Bracharz

Im klinischen Sinne verrückt ist Kim Jong-un vermutlich nicht. Was will er dann mit seinem hirnrissig anmutenden Gerede von einem möglichen Atomschlag gegen US-Basen? Am wahrscheinlichsten ist, dass er sich einen Namen schaffen will (oder muss, das Volk kannte ihn ja bisher hauptsächlich als stummen Klon seines Vaters), indem er ein politisches Theaterstück inszeniert, bei dem er als ‘Großer Führer’ sein Land Nordkorea vor den Aggressionen der Amerikaner und Südkoreas rettet.

Die jährlichen April-Manöver der US-Flotte mit der südkoreanischen Armee bilden dafür die geeignete Kulisse, wobei ihm die Amis mit der Einbeziehung der atomwaffenfähigen Stealth-Bomber einen Gefallen getan hätten. Kim Jong-un kann tagtäglich über seine scharfen Gegenmaßnahmen schwadronieren, lässt möglicherweise am 15. April, dem 101. Geburtstag des 1994 verstorbenen Staatsgründers Kim Il-sung, die beiden in den letzten Tagen an der nordkoreanischen Ostküste stationierten ‘Musudan’-Mittelstreckenraketen abfeuern (ohne Sprengkopf und ohne konkretes Ziel, sie sollen ins Meer fallen) und sich dann von dem propagandistisch völlig desorientierten Volk als Retter des Vaterlandes feiern. Das könnte, wenn niemand während dieser ganzen Pokerpartie die Nerven verliert, sogar funktionieren.

Blöd ist, dass niemand genau weiß, ob Nordkorea tatsächlich Nuklearwaffen hat oder nicht. Die drei bisherigen angeblichen Atombombentests könnten auch Fakes mit riesigen Mengen von konventionellem Sprengstoff gewesen sein – sie fanden unterirdisch statt und die US-Spionageflugzeuge haben bis jetzt keinen Hinweis auf einen Austritt radioaktiver Gase finden können. Man weiß allerdings zu wenig über die geologischen Verhältnisse des Versuchgeländes, die für einen möglichen Gasaustritt bei unterirdischen Tests entscheidend sind. Das notwendige Material für die Herstellung technisch einfacher Atombomben – Plutonium oder hochangereichertes Uran – hat Nordkorea zwar, und das Know-how zum Bombenbau soll man sich in Pakistan besorgt haben, aber selbst wenn das Regime einsatzbereite Atombomben besitzen sollte, dürfte Nordkoreas Interkontinentalrakete Taepodong mangels Zielgenauigkeit nicht als Trägermedium taugen.

Wenn das Land tatsächlich einsatzfähige Atombomben besitzen sollte oder wenn Chinesen, Russen und Amerikaner diese Militärdikatur ungeniert weiterwursteln lassen, bis es schließlich so weit ist, werden sie wohl irgendwann die 1991 aufgegebene Strategie der Flexible Response wieder exhumieren müssen. Die sah zwischen dem anfänglichen Einsatz konventioneller Truppen (Direct Defense) und dem finalen großen Erst- oder Zweitschlag mit strategischen Kernwaffen (General Nuclear Response) eine Zwischenstufe der euphemistisch so genannten Deliberate Escalation vor: Der Einsatz taktischer Atomwaffen soll den Feind überzeugen, dass er die Rechnung ohne den Wirt gemacht hat.