Die Literatur und die Arschlöcher

/ Kurt Bracharz

Das österreichische Nachrichtenmagazin „Profil“ machte seine Nummer 42 vom 13. Oktober natürlich mit dem in Kärnten geborenen, frisch gebackenen Literatur-Nobelpreisträger Peter Handke auf. In das Titelfoto war ein Zitat aus seinem Journal „Das Gewicht der Welt“ (1977) gestellt: „Der Nachteil bei großer Literatur ist, dass jedes Arschloch sich damit identifizieren kann.“

Wie so viele Sätze Handkes ist auch dieser kryptisch: Wenn es tatsächlich so wäre, dass sich jedes Arschloch mit großer Literatur identifizieren könnte, warum wäre das ein Nachteil? Und für wen? Für den Verfasser oder für das Arschloch oder für die ganze Menschheit (wenn sich zum Beispiel Trump mit Thoreau identifizierte, was allerdings bei Trumps Stolz, nichts zu lesen, unmöglich ist)? Wie identifiziert sich ein Arschloch mit großer Literatur? Sollte es nicht eher „infiziert“ heißen, weil das Verständnis großer Literatur möglicherweise die Arschlochhaftigkeit des Lesers verringert?

Ich war vermutlich nicht der einzige, der auf den ersten Blick glaubte, da stünde, dass der Nachteil großer Literatur sei, dass auch große Arschlöcher sie schreiben könnten, und dass Handke dabei an sich selbst gedacht habe – vor allem wegen seiner Trauerrede beim Milošević-Begräbnis, aber auch wegen Episoden in seinem Privatleben, wo der zum Jähzorn Neigende schon mal zuschlug. Den feinen Pinkel mimte Handke allerdings nie. In den 1970er Jahren schrieb er in der Zeitschrift „Film“ Kolumnen, die meines Wissens bisher nicht nachgedruckt worden sind, so dass ich aus dem Gedächtnis zitieren muss. Handke lobte die kleinen Landkinos, in denen man noch die (auch damals schon grotesken) Fuzzy-Western mit Al „Fuzzy“ St. John sehen konnte, und ärgerte sich über die seinerzeit üblichen Zwischenrufe linker Studenten bei so gut wie jeder Filmvorführung. Sein in der Kolumne gedrucktes Rezept gegen diese Belästigung: Man möge die linke Scheiße und die rechte Scheiße zusammen geben und die bürgerliche Scheiße oben drauf und dann eine Bombe auf das Ganze werfen.

Man möge mich nicht missverstehen: Ob es international würdigere Kandidaten für den Nobelpreis gegeben hätte, weiß ich nicht, im deutschen Sprachraum war Handke aber ganz klar der einzige, der in Frage kam. Dass er noch vor fünf Jahren den Nobelpreis abschaffen wollte und ihn jetzt gerne angenommen hat, steht auf einem anderen Blatt.

Wenn wir – für diese Kolumne hier ausreichend – Arschlöcher als jene Männer (Frauen werden anders apostrophiert) definieren, hinter denen Menschen, die nur zufällig mit ihnen zu tun hatten, die Augen rollen und sagen, meine Güte, war das ein Arschloch, dann sind dafür jene Schriftsteller, für welche die alte Regel gilt, man könne entweder schreiben oder leben, die besten Kandidaten. Sie schikanieren mindestens oder zerstören gleich ihre Familien, sie stehen quer zum „normalen“ konformistischen Verhalten, sie brauchen ein extremes Ego, um sich durchzusetzen in einer Branche, die das große Geld mit Kitsch und nicht mit Kunst macht. Mein Lieblingsbeispiel für einen solchen Widerling ist Elias Canetti, der 1981 den Nobelpreis verdientermaßen bekommen hat. Er hat in dem Nebenwerk „Party im Blitz“ seine Zeit im Exil in England geschildert, wobei er sich unter anderem wütend darüber auslässt, wie er, der bedeutende Dichter, von allen ignoriert worden sei, während Zeitgenossen berichten, wie er alle beim ersten Kontakt vor den Kopf gestoßen habe, worauf man ihn in Ruhe ließ. Selbst für seine Verhältnisse besonders abstoßend fand ich seine Beschreibung eines alten Ehepaares bei deutschen Bombenangriffen. Ich erlaube mir, aus einem meiner Bücher zu zitieren, „Für reife Leser“, Innsbruck 2009:

„Canetti war ein boshafter Beobachter. Seine stetige Betonung des Physischen ist anregend vor allem dort, wo sie durch Originalität überrascht, aber viele seiner Beschreibungen des Körperlichen sind unnötig präzise oder wirken verzerrt. Welchen Wert hat die ausführliche Information, wie passiv sich Iris Murdoch beim Vögeln verhalten hat, vor allem, wenn Canetti gar nicht auf die Idee kommt, das könnte vielleicht auch etwas mit seinen Qualitäten als Liebhaber zu tun gehabt haben? Oder wenn er sich über Franz Berman Steiner auslässt, wie der ausgesehen habe! (,Besonders hässlich war sein Gesicht … weniger einnehmend als er konnte ein Mensch nicht in Erscheinung treten’.) In der Taschenbuchausgabe ist ein Foto von Steiner abgedruckt, und er sieht darauf weißgott nicht hässlicher aus als beispielsweise der Quasimodo auf dem Gruppenfoto auf Seite 85, der natürlich niemand anderer ist als Canetti selbst. Und die Beschreibung der Milburns im Amersham! Ihr Tiefpunkt ist erreicht, wenn die Luftschutzsirenen heulen und die beiden alten Leutchen psychisch kollabieren. Dann fassen sie sich an den Händen, ,schlapfen’ eilig in die Küche und verkriechen sich unter dem massiven Holztisch, wo sie vermutlich beten, jedenfalls ganz still bleiben. Veza bereitet derweil Essen zu. Ihre Ruhe beruhigt auch die Milburns, sie bleiben aber unter dem Tisch. ,Wenn es lange dauerte, wurden die Milburns hungrig. Sie sagten es nie, ihre Befürchtung dass ein Pilot oben durch ihre Stimmen auf sie aufmerksam werden könnte, setzte nie aus, aber wenn Veza ihnen das Essen unterm Tisch zuschob, lappten sie es gierig auf wie Hunde. Die Laute ihres Schlürfens waren bis zu uns hinauf zu vernehmen. Als Hunde fürchteten sie die Aufmerksamkeit der Flieger oben nicht. Nur Menschen hatten in jeder Hinsicht zu verschwinden. Ich kam dann auch in die Küche, einen solchen Anblick ließ ich mir nicht entgehen.’ Die Szene dient Canetti wohl als Illustration zu seinen Ausführungen über Verwandlungen in ,Masse und Macht’. Er scheut sich nicht, die greisen Milburns dafür in Hunde zu verwandeln. Er tut das, nicht die Milburns selbst. Schon das Wort ,lappen’ ist eindeutig und macht den Vergleich ,wie Hunde’ überflüssig, denn das Wort steht für die Bewegung einer Hundezunge bei der Flüssigkeitsaufnahme. Menschen können mit ihren Zungen nicht ,lappen’, und Jeremy Adler irrt sich, wenn er im Nachwort meint, Canetti habe da sozusagen versehentlich das englische Wort ,to lap’ eingedeutscht. Nein, Fifi lappt sein Wasser aus dem Napf und das alte englische Ehepaar bei Canetti sein offenbar dünnflüssiges Essen.“

Dann doch lieber Handkes „Gehen Sie sich doch ficken!“