Die Mutter der Verbannten

/ Kurt Bracharz

Im Sockel der Freiheitsstatue befindet sich ein Museum und in diesem eine Bronzetafel mit dem 1883 verfassten Sonett „The New Colossus“ („Der neue Koloss“) der jüdischen Dichterin Emma Lazarus. Der Titel und die ersten Zeilen des Gedichts beziehen sich auf den Koloss von Rhodos, eines der sieben Weltwunder, das die Rhodier nach dem glücklichen Ausgang der Belagerung ihrer Hauptstadt durch Demetrios I. Poliorketes aufgestellt hatten. Lazarus stellte die Freiheitsstatue in Gegensatz zu dem protzigen antiken Bauwerk: „Nicht wie der metallene Gigant von griechischem Ruhm, / Mit sieghaften Gliedern gespreizt von Land zu Land. / Hier an unserem meerumspülten hesperischen Tore soll stehen / Eine mächtige Frau mit Fackel, deren Flamme / Der eingefangene Blitzstrahl ist, und ihr Name / Mutter der Verbannten lautet.“ Im Original heißt sie also „Mother of Exiles“, und ebenso unmissverständlich endet das Sonett: „Keep, ancient lands, your storied pomp!“ cries she / With silent lips. „Give me your tired, your poor, / Your huddled masses yearning to breathe free, // The wretched refuse of your teeming shore. / Send these, the homeless, tempest-tossed to me: / I lift my lamp beside the golden door.“ („Behaltet, o alte Lande, euren sagenumwobenen Prunk“, ruft sie / Mit stummen Lippen. „Gebt mir eure Müden, eure Armen, / Eure geknechteten Massen, die frei zu atmen begehren, // Den elenden Unrat eurer gedrängten Küsten; / Schickt sie mir, die Heimatlosen, vom Sturme Getriebenen, / Hoch halt’ ich mein Licht am gold’nen Tore!“)

Diese Auffassung der Bedeutung der Freiheitsstaue widersprach zwar den Intentionen der französischen Stifter, die sie als Ausdruck der den Franzosen und Amerikanern gemeinsamen Sehnsucht nach Freiheit verstanden, aber die Anbringung des Gedichts im Inneren des Sockels im Jahre 1903 lässt den Schluss zu, dass die New Yorker zwanzig Jahre später diese Deutung nicht als befremdlich empfanden.

Als der kommissarische Leiter der US-Einwanderungsbehörde Ken Cuccinelli unlängst Trumps Verschärfung der Einwanderungsbestimmungen vorstellte, wurde er gefragt, ob für ihn das Lazarus-Gedicht noch zum amerikanischen Ethos gehöre. Seine Antwort war, gewiss doch, aber gemeint seien sicher nur Europäer und davon nur solche, die den Sozialkassen nicht zur Last fallen würden. Er entblödete sich nicht, den Wortlaut von Lazarus’ Sonett verändert vorzutragen: „Gebt mir eure Müden und Armen, die auf eigenen Füßen stehen können und nicht zur öffentlichen Last werden.“ Der demokratische Senator Charles Schumer aus New York kommentierte das mit den Worten: „Es rinnen Tränen die Wangen der Freiheitsstatue herab.“

Die Freiheitsstatue heißt offiziell Liberty Enlightening the World, also „Die Freiheit erleuchtet die Welt“, und so hieß sie auch bei den französischen Spendern: La Liberté éclairant le monde. Als sie am 28. Oktober 1886 eingeweiht wurde, war der Demokrat Grover Cleveland der Präsident der Vereinigten Staaten. Er war im ersten Wahlgang mit klarer Mehrheit sowohl der Stimmen als auch der Wahlmänner gewählt worden, und zwar aus einem in der Politik immer und überall höchst ungewöhnlichen Grund: Sein Credo war „Tell the Truth!“ (Sag die Wahrheit!), und – das Unerwartete – er hielt sich tatsächlich daran. Niemand zweifelte an der Ehrlichkeit und Integrität des Pfarrersohns aus Caldwell im Bundesstaat New York, der zunächst Anwalt im Erie County wurde, dann ebenda Staatsanwalt. Er wurde 1870 zum Sheriff von Erie County gewählt, 1882 Bürgermeister von Buffalo und noch im selben Jahr Gouverneur von New York. 1885 wurde er der 22. Präsident der Vereinigten Staaten. Am meisten beeindruckt hatte die Wähler, wie er in Buffalo mit der dort allgegenwärtigen Korruption aufgeräumt hatte, aber auch sein faires Verhalten in allen seinen Wahlkämpfen (Cleveland war auch der 24. Potus, deshalb ist Trump der 45., weil die USA infolge Clevelands zweier Präsidentschaften von 1885 bis 1889 und 1893 bis 1897 – dazwischen war Benjamin Harrison Präsident – nur 44 Präsidenten hatten).

Zwischen dem originalen Pathos des Gedichts von Emma Lazarus und der böswilligen Verzerrung seines Sinns durch den ultrarechten Kolumbusritter Cuccinelli klafft ein so tiefer Abgrund wie der zwischen dem Ehrenmann Cleveland und dem heutigen Präsidenten.