Bet’, Siri, bet’!

/ Kurt Bracharz

„Utopia“, eines der bekanntesten frühen Gedichte von Hans Magnus Enzensberger, beginnt mit den Worten: „Der Tag steigt auf mit großer Kraft / schlägt durch die Wolken seine Klauen / Der Milchmann trommelt auf seinen Kannen / Sonaten: himmelan steigen die Bräutigame / auf Rolltreppen: / wild mit großer Kraft / werden schwarze und weiße Hüte geschwenkt. / Die Bienen streiken. / Durch die Wolken / radschlagen die Prokuristen, / aus den Dachluken zwitschern Päpste. / Ergriffenheit herrscht und Spott / und Jubel. Segelschiffe / werden aus Bilanzen gefaltet.“

Das wurde 1957 erstmals veröffentlicht, also 56 Jahre bevor es überhaupt zwei gleichzeitig zwitschernde Päpste gab. Die Dachluken sind der dichterischen Freiheit geschuldet, aber Twitter, Ratzinger und Bergoglio sind offenbar visionär vorhergesehen worden. Sonst ist aber leider nix eingetroffen von den Vorhersagen in „Utopia“, die Bienen sterben ja eher, als dass sie streiken würden.

Nicht vorhergesehen wurden auch die Bet-Bots, die heute von mehreren Religionen akzeptiert und benutzt werden. Ihr mechanischer Vorläufer aus Tibet wird weltweit als Metapher verwendet: die Gebetsmühle steht für das monotone und anhaltende Wiederholen eines Gedankens oder eines Sinnzusammenhanges, denn sie ist physisch ein Rad, auf dem ein mit Mantras beschriebener Papierstreifen angebracht ist. Mantras sind heilige Silben, Wörter oder Verse, deren Rezitation mentale und spirituelle Energien freisetzt. Das im Westen bekannteste Mantra ist „Om mani padme hum“. Das mechanische Drehen der Mühle sendet das spirituelle „Licht“ der Mantras zu allen fühlenden Wesen und verbessert deren Karma. Das ermöglicht einerseits auch Analphabeten, lange und komplizierte Mantras zu verwenden, die sie nicht hätten auswendig lernen können, und macht andererseits statt von Hand mit Wind oder Wasser betriebene Bet-Automaten möglich, die unermüdlich tätig sein können.

Und wie sieht nun die moderne Form der Gebetsmühle aus? Nun, sie ist nur Software und hört auf mehr oder minder weibliche Namen wie Siri oder Alexa. Und es ist nicht eine besondere Ausformung des Buddhismus, die sich ihrer bedient, sondern zum Beispiel die doch sehr westlich orientierte Church of England. Die hat Alexa, dem Sprachassistenten von Amazon, beigebracht, morgens und abends Gebete zu sprechen oder einen Segen über das Essen. Dass Alexa die nächstgelegenen Kirchen aufzuzählen weiß, ist weniger verwunderlich, das lässt sich auch einem Smartphone beibringen.

Die Juden haben es eigentlich mehr mit Apples Siri, weil sie Hebräisch perfekt aussprechen kann, wofür Alexa noch einiges hinzulernen müsste. Aber ein orthodoxer Rabbiner aus Frankfurt, der offenbar Amazon Apple vorzieht, fragte Ende Juni in einem Zeitungsartikel: „Wenn Alexa beten kann, darf sie dann einen Minjan ergänzen? Kann ich mit dem Sprachassistenten Tora lernen? Kann Alexa die Brachot für mich vorsprechen?“ Die Brachot sind die auf die jeweiligen Speisen und Getränke zugeschnittenen Segenssprüche, die ein Computer leichter richtig und vollständig „im Kopf“ behalten kann als ein Gläubiger, der auch noch an etwas anderes zu denken hat. Da sind Alexa oder Siri genau richtig, aber für einen Minjan reicht es natürlich nicht. Der Minjan ist die aus mindestens zehn im religiösen Sinne mündigen Juden bestehende Betgemeinde, die für die Abhaltung eines vollständigen Gottesdienstes unbedingt nötig ist. Es hat zwar schon Disputationen zwischen Orthodoxen und Reformern gegeben, ob unter besonderen Umständen auch eine Frau den Minjan auf zehn vervollständigen kann, und sogar, dass ein Transsexueller, der jetzt eine Frau ist, für einen Minjan immer noch als Mann zählt, weil das von Gott gegebene Geschlecht als unveränderbar angesehen wird, aber es ist klar, dass die Frage des Rabbiners eine rein rhetorische war: Ein Sprachassistent kann unmöglich der zehnte „religiös mündige Mann“ sein, ganz gleich, was er oder sie – oder eigentlich es ­– alles hersagen kann.

Und was ist mit den Christen? Könnte Siri zum Beispiel nach der Beichte die dem Beichtkind als Buße aufgegebenen Gebete herunterspulen? Ich kann diese Frage nicht beantworten, weil ich mit Borges die gesamte Theologie für einen Zweig der phantastischen Literatur halte, aber ich nehme an, dass die Christen die Fiktion des direkten Gesprächs mit Gott weiter pflegen werden. Bleibt nur die Frage offen, ob nicht ein Sprachassistent der besser beschlagene Beichtvater wäre, könnte er doch für seine Entscheidungen auf riesige Datenbanken mit Präzedenzfällen zurückgreifen, und auch das Beichtgeheimnis könnte optimaler verschlüsselt werden, als es unter Menschen je möglich wäre. Oder der vatikanische Nachrichtendienst besser Daten sammeln als je zuvor in der Geschichte der Kirche.