Das geht ins Auge

/ Kurt Bracharz

So nannte Andreas Platthaus seine im September 2016 in der Reihe „Die andere Bibliothek“ erschienenen „Geschichten der Karikatur“ (Untertitel). Die Mehrzahl verwendete Platthaus, weil er über Karikaturen anhand von 51 konkreten Beispielen schreibt – von einer antiken Spottzeichnung an einer Mauer des Paedagogiums auf dem römischen Palatin, wohl aus der ersten Hälfte des 2. nachchristlichen Jahrhunderts, bis zum Titelblatt von „Charlie Hebdo“ vom 14. Januar 2015, eine Woche nach dem Terroranschlag. Beide Bilder haben mit Religion zu tun, der unbekannte Kritzler im Paedagogium zeichnete einen Mann, der einen gekreuzigten Esel anbetet und schrieb „Alexamenos verehrt Gott“ darunter, Charlie Hebdo legte die nach dem Attentat weltweit verbreitete Solidaritätserklärung mit der Zeitschrift „Je suis Charlie“ einem weinenden Moslem in den Mund (bzw. auf ein Schild, das er hält) und überschrieb das Bild mit „Tout est pardonné – Alles ist vergeben!“ Platthaus trifft eine klare Unterscheidung zwischen Karikaturen und gezeichneten Schmähungen: „Karikatur in diesem Verständnis macht sich nicht gemein mit der Macht, sie ist notwenig antiautoritär. Im abweichenden Fall handelt es sich um das, was ich als Begriff eben schon zur Kennzeichnung des Palatin-Graffitos herangezogen habe: ein Schmähbild. Denn dieses Werk eines anonymen römischen Zeichners ist nicht zufällig an der Wand des Kaiserpalastes gefunden worden, die Darstellung dürfte dem Herrscher gefallen haben. (…) Ähnlich sollte es sich im zwanzigsten Jahrhundert mit antisemitischen Zeichnungen in der nationalsozialistischen Presse verhalten: Der ,Stürmer’ zum Beispiel enthielt keine Karikaturen im hier verwendeten Verständnis, er bot lediglich Schmäh- und Hetzbilder. Wenn missliebigen Karikaturen heute habituell ,Stürmer-Stil’ vorgeworfen wird, begehen deren Kritiker einen Kategorienfehler.“

Die Unterscheidung klingt einfach: Spott über Mächtige ist Karikatur, Spott über Machtlose Hetze. In der Praxis geht es nicht immer so klar zu. Die „New York Times“ druckt seit 1. Juli keine politischen Karikaturen mehr ab. Der Grund war eine Zeichnung des portugiesischen Karikaturisten António Moreira Antunes, die zwei Politiker in „als antisemitisch empfundener Bildsprache“ (NYT in der Entschuldigung) zeigte: Netanjahu als Blindenhund mit Davidstern am Halsband, der einen blinden, eine Kippa tragenden US-Präsidenten Trump führt. Diesmal war es der israelische UN-Botschafter, der sich in der Kategorie vergriff und eine „Stürmer-Karikatur“ erkannte. Der bisher für die „New York Times“ zeichnende und nun geschasste Schweizer Patrick Chapatte sagte hingegen: „Ich befürchte, es geht hier nicht nur um Karikaturen, sondern um Journalismus und Meinungsäußerungen allgemein.“ Wie hätte man eine Karikatur eingeschätzt, in der Kim Jong-un den begeisterten Ochsen Trump am Nasenring ein paar Meter auf nordkoreanisches Gelände führt?

In Deutschland ist die „Emma“-Cartoonistin Franziska Becker, 69, als rassistisch und islamfeindlich angegriffen worden. Sie ist das beste Beispiel dafür, dass das jedem passieren kann, gleichgültig, wie harmlos, vorsichtig oder zimperlich sie oder er ist. Der Spiegel fragte Becker im Interview: „Manche Ihrer Kritiker sagen, Satire sei nur Satire, wenn sie sich mit den Mächtigen anlege. Satire sei keine Satire, wenn sie nach unten trete.“ Beckers Antwort: „Das sehe ich ganz ähnlich. Und deshalb trete ich auch nicht nach unten. Islamisten sind weltweit eine mächtige Kraft, die mittlerweile auch in viele westliche Staaten vorgedrungen ist.“ Spiegel: „Können Sie den Vorwurf nachvollziehen, Ihre Zeichnungen seien rassistisch?“ Becker: „Das ist Rufmord und völlig absurd. Seit wann sind Muslime eine Rasse? (…) Mit Pegida und der AfD lasse ich mich nicht in eine Schublade stecken, das ist diffamatorisch. Ich übertreibe satirisch, sonst nichts. Mich stört der Kultur-Relativismus gewisser, vermeintlich fortschrittlicher Kreise.“

In Österreich hat der altgediente linke Karikaturist (ich bin mir sicher, ihn aus dem „Neuen Forum“ zu kennen, auch wenn seine Wikipedia-Eintragung diese Zeitschrift nicht mehr kennt) Karl(i) Berger eine Karikatur ins Netz gestellt, die den Ex-Kanzler Kurz in SS-Uniform zusammen mit Oskar Schindler zeigt. Bildunterschrift: „Falls es für Sebastian Kurz bei der Wahl nicht klappt, ist er für eine Rolle im Remake von ,Schindlers Liste’ im Gespräch.“ In einer Sprechblase sagt also der Schauspieler Kurz beim Casting: „Mein lieber Oskar Schindler: Juden retten ist schön und gut, aber das ist ein Bruch der Gesetze! Wir haben eine klare Gesetzeslage …“ Man sollte diese schlaue Parallele für unmissverständlich halten, aber sie erntete eine Menge Postings mit Schaum vor dem Mund, weil Kurz eine SS-Uniform trägt. Der Unterschied zum plumpen „Baby-Hitler“ für Kurz der deutschen „Titanic“ erschließt sich aber nicht jedem Betrachter, und dann geht es ins Auge.