Unsägliche Schmerzen, unsäglicher Schmarren

/ Kurt Bracharz

„Liebe Mami, jetzt bin ich im Himmel und sitze auf Jesu Schoß. (…) Ich wäre so gern dein kleines Mädchen gewesen und verstehe eigentlich gar nicht so richtig, was passiert ist. (…) An genau diesem Tag passierte etwas ganz Schreckliches. Ein gemeines Monster kam in diesen warmen, bequemen Ort, an dem ich mich befand. Ich hatte entsetzliche Angst und begann zu schreien, aber es kam kein Laut über meine Lippen. Das Monster kam immer näher und näher, und ich schrie immer wieder: Mami, Mami, hilf mir bitte, Mami hilf mir! Entsetzliche Angst war alles, was ich fühlte. Ich schrie und schrie, bis ich nicht mehr konnte. Dann riss mir das Monster den Arm aus. Es tat so weh, ein unbeschreiblicher Schmerz. Und es hörte gar nicht auf. Oh, wie ich bettelte, es möge aufhören! Voller Entsetzen schrie ich, als das unerbittliche Monster mir ein Bein ausriss. Trotz unsäglicher Schmerzen wusste ich, dass ich im Sterben lag. Ich wusste, dass ich nie Dein Gesicht sehen oder von Dir hören würde, wie sehr Du mich liebst. Ich wollte alle Deine Tränen versiegen lassen und hatte so viele Pläne, Dich glücklich zu machen – nun konnte ich das nicht mehr, meine Träume wurden zerschlagen. (…) Jesus sagte mir, dass er mich liebt und dass Gott mein Vater ist. Da war ich glücklich. Ich frage ihn, was denn dieses Ding war, das mich getötet hatte. Er antwortete: ,Abtreibung. Es tut mir so leid, mein Kind, denn ich weiß, wie sich das anfühlt.’ Ich weiß nicht was Abtreibung ist; vermutlich ist das der Name des Monsters.“

Woher Jesus weiß, wie sich eine Abtreibung für den abgetriebenen Fötus anfühlt, bleibt in diesem „Brief vom Himmel“ unklar; er soll ja seinerzeit durchaus das Licht der Welt erblickt haben.

Der zweifellos von US-Evangelikalen stammende Text (Original: „Cry of an Unborn Baby“) hat sich auch in Europa verbreitet, und das nicht nur durch Pro-Life-Propagandisten, sondern sogar in erzkatholischen Kreisen wie Kath.net oder im „Schweizer Katholischen Sonntagsblatt“. Auf Youtube gibt es zwei geschriebene Versionen, eine schlichte und eine mit Babyfoto und Geigenmusik unterlegte, im Baby-und-Elternforum des Nahrungsmittelherstellers HIPP kann man als Reaktionen auf eine allerdings aus 2010 stammende, kommentarlose Veröffentlichung des Briefes ausschließlich unkritische Antworten wie diese lesen: „Mich hat der brief sehr gerührt aber es ist auch gut für mich gewesen. Da ich evt. schwanger bin. meine Geburt von meinem Sohn liegt jetzt 4 Monate zurück und ich hab noch keine blutungen bekommen, der arzt gab mir jetzt einen termin da es evt schwanger bedeuten kann, ich hatte bis vor 5 min noch die meinung sollte es jetzt so sein muss ichs abtreiben,… da ich ein MRT sowie eine Röntgen bekommen hab und das sollte man schwanger ja nicht tun wegen fehlbildungen usw - aber jetzt bereue ich das ich überhaupt an so was gedacht hab - was ist wenn die das wirklich so merken?! das wäre dann pfolter für die seele ich könnte mich dann nie wieder im spiegel sehen bin froh den brief gelesen zuhaben bevor ich den fehler gemacht hätte. Danke, mfG Mary“.

Warum ich diesen alten Tinnef hier aufgreife? Weniger, weil in den USA seit dem Beginn von Trumps Präsidentschaft eine Anti-Abtreibungs-Welle rollt, die möglicherweise die Roe vs. Wade-Entscheidung des Obersten Gerichtshofs von 1973 aufheben wird, sondern hauptsächlich, weil soeben eine Lehrerin in St. Gallen den „Brief vom Himmel“ zusammen mit einem zweiten Blatt mit Sprüchen wie „Weltweit werden jährlich 45 Millionen Kinder abgetrieben. Zum Vergleich: Das Nazi-Regime forderte 55 Mio Tote“ als Unterrichtsmaterial im Biologieunterricht für 14 bis 16-Jährige eingesetzt hat – und zwar nicht etwa zur Diskussion des Pamphlets, sondern als Aufklärungsmaterial. Klar, ein Ausrutscher einer Einzelperson, von dem sich alle Zuständigen sofort distanziert haben.

In Österreich wird gerade debattiert, ob man die Sexualerziehung in Schulen den Lehrern oder externen Vereinen überlassen soll. In einem österreichweit verbreiteten Leserbrief (in den VN am 29. Juni abgedruckt) schrieb Mag. Suha Dejmek: „Ich vertrete die Stimme jener Eltern, die ganz andere Erfahrungen durch externe Vereine an Österreichs Schulen gemacht haben. Sie berichten, dass ihre Kinder – viele sind noch im Kindergarten oder in der Volksschule – statt Sexualpädagogik-Unterricht regelrecht ,Sex-Workshops’ bis zu mehreren Stunden hatten. In diesen werden sie mit pornographischen Inhalten, allen möglichen (nicht altersgerechten) Sex-Praktiken und Selbstbefriedigungs-Methoden konfrontiert. Die betroffenen Kinder schämten und ekelten sich maßlos über das Gehörte und das Erlebte – so wie mein zehnjähriger Sohn. (…) Meiner Meinung nach wäre der Wildwuchs und das Risiko eines Sex-Workshops wesentlich geringer, wenn die Sexualerziehung in Zukunft von den eigenen Lehrern mit entsprechender Ausbildung übernommen wird.“

Ich bin zu einer Zeit in die Schule gegangen, als der Aufklärungsunterricht – sofern es überhaupt so etwas gab – darin bestand, dass man auf die Gefahr von Geschlechtskrankheiten hingewiesen wurde; bestenfalls wurden einem in der Oberstufe noch Querschnitte des männlichen und des weiblichen Unterleibs in funktionellem Stillstand gezeigt, aber irgendwie haben wir uns alle nötigen Informationen anderswo besorgt und dass das bei den meisten schief gegangen wäre, kann man auch nicht behaupten. Natürlich war das eine ganz andere Schule als jetzt, wir haben dort hauptsächlich Lesen, Schreiben und Rechnen gelernt, heute vergessene Künste. Ich kann natürlich nur für mich sprechen, aber ich glaube, eine Sexualerziehungsstunde wäre mir so überflüssig vorgekommen wie damals der Handarbeitsunterricht, in dem wir Serviettenringe aus Markknochen polierten, die ich schon auf dem Heimweg wegwarf.