Ein Fall von Anlassgesetzgebung

/ Kurt Bracharz

Die Recherchekooperation von „Falter“ und „Vorarlberger Nachrichten“ traf mich unvorbereitet. So weit sind also die Verwerfungen in der Medienszene schon fortgeschritten, dass zwei Zeitungen, die sich in keiner Hinsicht ähnlich sind, kooperieren? Der Anlass war ein Geschehnis, das seine Schwerpunkte in Vorarlberg und in Wien hatte, nämlich in der Bezirkshauptmannschaft Dornbirn und im Innenministerium in der Herrengasse 7. Der „Falter“ brachte als Titelgeschichte „Der Attentäter von Dornbirn“ die ausführliche Biographie des Soner Ö., der am 6. Februar den Leiter der Sozialabteilung Alexander Alge erstochen hat. Das Küchenmesser, mit dem er die Tat ausführte, hatte er extra geholt, sodass von einer Tötung im Affekt keine Rede sein kann.

Der „Falter“ als letztes „linkes“ Medium Österreichs bemüht sich um Objektivität, ist aber gegen Klischees („die Bluttat von Dornbirn schockte ganz Österreich“) auch nicht gefeit. Der Artikel, von dem nicht ganz klar ist, wer ihn geschrieben hat („Recherche: Barbara Toth (Falter), Michael Prock (VN), Mitarbeit: Eva Konzett (Falter)“), listet Soner Ö.s Strafregister auf, natürlich mit verständnisvollem Füllmaterial, während ich mich hier auf die Daten beschränke: Soner Ö. wurde 15-mal wegen Eigentums-, Gewalt- und Drogendelikten verurteilt. Als Mittelschüler war er in Raufereien, Körperverletzung und Einbruch ins Schulgebäude involviert, mit 14 Jahren steht er wegen schweren Diebstahls, Einbruchs, unbefugten Gebrauchs von Fahrzeugen, Drogenmissbrauch und Verleumdung vor dem Richter, zwei Monate nach dem Urteil (zwei Monate auf Bewährung) neuerlich wegen Todesdrohung und Widerstand gegen die Staatsgewalt. „Falter“: „In Soners Teenagerjahren vergeht kaum ein Jahr, in dem er nicht vor Gericht steht, einmal auch in Köln. Die Ausgangsdelikte bleiben gleich, dazu kommen schwere Körperverletzung und unerlaubter Waffenbesitz. Er gehört zu einer Einbrecherbande, die sich Fahrschulen, Hoteltresors, Autowerkstätten, Supermärkte, Tankstellen und Trinklokale vornimmt, einmal auch einen türkischen Sport- und Kulturverein in Rankweil, dazu kommen Auto- und Handydiebstähle.“ Mit 19 sitzt er zweieinhalb Jahre ein und wird nach der Entlassung sofort wieder verhaftet, wegen schwerem Diebstahl und Drogenbesitz. Am 6. Februar 2009 wird der in Lustenau geborene Soner Ö. im Auftrag der Bezirkshauptmannschaft Dornbirn in die Türkei abgeschoben, mit einem zehnjährigen Rückkehrverbot, das später in ein unbefristetes umgewandelt wird. Zehn Jahre später kommt er zurück und sucht am 6. Jänner 2019 nach illegalem Grenzübertritt bei der Polizeiinspektion in Höchst um Asyl an. Und jetzt wird es interessant. Am nächsten Tag stellt er in Feldkirch seinen Asylantrag und wird der Erstaufnahmestelle West in Thalham bei St. Georgen zugewiesen. Am 18. Jänner wird sein Asylverfahren zugelassen und „die ,Anordnung der Unterkunftsnahme’ in Thalham wieder aufgehoben. Dieser Moment ist entscheidend. Denn die Behörden hätten auch die Möglichkeit gehabt, ihn aus Gründen der öffentlichen Ordnung oder der zügigen Bearbeitung und wirksamen Überwachung des Antrags auf internationalen Schutz im Zentrum zu behalten, oder von ihm zu verlangen, sich regelmäßig bei einer Polizeidienststelle zu melden. Aber er kann gehen.“ („Falter)

Das ist tatsächlich der springende Punkt. Die Beamten in Thalham kannten sein Strafregister und wussten auch, dass ein Asylantrag, den er 2009 nach einer ersten illegalen Einreise gestellt hatte, abgelehnt und er 2010 zum zweiten Mal abgeschoben worden war. Gaben sie ihn frei, weil er in seinem Asylantrag behauptete, Kurde zu sein und als Foreign Fighter mit den kurdischen Volksverteidigungseinheiten gegen den IS gekämpft und dabei türkische Soldaten getötet zu haben? Jedenfalls fragte die Koordinierungsstelle des Innenministeriums bei der Asylkoordinierungsstelle in der Vorarlberger Landesverwaltung an, ob ihn das Land Vorarlberg nicht in die Grundversorgung aufnehmen wolle. Die zuständige Beamtin, eine ehemalige Fremdenpolizistin, lehnte das dezidiert ab und telefonierte mit der Koordinierungsstelle des Innenministeriums, allerdings ohne Ergebnis. Jetzt behauptet das Innenministerium, Vorarlberg habe „der Übernahme des Tatverdächtigen in die Grundversorgung zugestimmt“, und Kickl höchstpersönlich versteift sich darauf, eine Schubhaft sei im Falle Söner Ö. unmöglich gewesen. Da können der Asylanwalt Wildfried Embacher, der Vorarlberger Landeshauptmann Markus Wallner, die SPÖ und die Neos sowie die einen parlamentarischen Untersuchungsausschuss fordernden Liste Jetzt und die Bürgerinitiative „Uns reicht’s“ lange das Gegenteil behaupten, Kickl gibt nichts zu. Andererseits geniert er sich nicht, seine am 14. Februar, also 8 Tage nach dem Attentat, vorgeschlagene „präventive Sicherungshaft für gefährliche Asylwerber“ als eine (in Rechtsstaaten verpönte) Anlassgesetzgebung zu bezeichnen.