Linksrechtsblödsinn

/ Kurt Bracharz

Die in Berlin erscheinende, zur Axel Springer SE gehörende Tageszeitung DIE WELT – „täglich weltweit in 130 Ländern verbreitet, Pflichtblatt an allen deutschen Wertpapierbörsen“ – hat in ihrer Ausgabe vom 16. Februar 2019 im Bund „Die literarische Welt“ dem Schriftsteller Maxim Biller eine ganze Seite im Nordischen Format für eine mit „Unter Links-Rechts-Deutschen“ betitelte Polemik eingeräumt.

Jetzt hätte ich Maxim Biller beinahe einen „überschätzten“ Schriftsteller genannt, aber als mir klar wurde, dass ich noch niemanden getroffen habe, der ihn – wohlgemerkt in seinem Teilaspekt als Schriftsteller! – geschätzt hätte, lasse ich das bleiben. Seine meistens provokanten Auftritte in der Neuauflage des „Literarischen Quartetts“ im ZDF um die Jahreswende 2015/16 gaben zwar keine Auskunft über seine literarische Qualitäten, aber doch über seine hohe Selbsteinschätzung.

DIE WELT stellte ein Bild von Biller (drei Stühle belegend, soll vielleicht „zwischen den Stühlen“ bedeuten) auf die Titelseite (der eigentliche Aufmacher war „Nationaler Notstand: Trump eskaliert Streit mit Kongress“) und schrieb dazu: „Der Schriftsteller Maxim Biller geht mit Deutschlands Intellektuellen ins Gericht – und wirft ihnen vor, unter dem Vorwand des Dialogs die Neue Rechte zu umarmen. Haben wir wirklich nichts aus der Geschichte gelernt? Eine Abrechnung mit der fatalen Unentschiedenheit eines vermeintlich aufgeklärten Milieus.“ Wer ist das „wir“ aus dem zweiten Satz? Müsste es nicht „sie“ heißen, wenn der Verfasser der paar Zeilen sich nicht von vornherein (oder nur gedankenlos?) mit Billers Vorwürfen identifizieren würde? Auch das „vermeintlich“ bedeutet ja, dass die deutschen Intellektuellen irren, wenn sie sich für aufgeklärt halten.

Zu Beginn seiner Polemik wirft Biller die Frage auf, was ein Linksrechtsdeutscher sei. Er beantwortet sie zunächst nicht mit einer Definition, sondern mit einem Beispiel, nämlich Frank Schirrmacher, dem 2014 verstorbenen FAZ-Mitherausgeber, dessen angebliche Widersprüche er aufzählt: Schirrmacher „verehrte den Ex-Kommunisten und Nazi-Überlebenden Marcel Reich-Ranicki, aber komischerweise auch den eiskalten Antidemokraten Ernst Jünger“, er „vernichtete in seinem Feuilleton Martin Walser nach dessen antisemitischem Reich-Ranicki-Roman ,Tod eines Kritikers’ – und druckte dessen Texte später trotzdem wieder genau dort“. Als Kulturchef ließ Schirrmacher „historisch korrekte Artikel über die Kristallnacht, die böse Wehrmacht und die noch bösere SS“ abdrucken und fand dann Nico Hofmanns nach Billers Ansicht nazifreundliche TV-Serie über HJ und BDM gut. Ja, darf denn der das?

Schließlich reicht Biller doch noch eine Art Definition nach: „Was genau ist der Linksrechtsdeutsche? Ich würde sagen, er ist jemand, der einerseits ein sehr ausgeprägtes deutsches historisches Schuldbewusstsein hat, der ein sehr modernes, westliches Leben zwischen Biomarkt, Amazon Prime und Kita-Elterngruppe führt, der automatisch die Freiheit des Einzelnen über den Zwang der Gruppe und den Willen eines autoritären Herrschers stellt. Und der andererseits trotzdem ganz schirrmachermäßig seinen geliebten Großvater zurückhaben will und mit ihm auch irgendwie die reaktionäre Deutung der Geschichte der Deutschen an sich, zusammen mit der politischen, intellektuellen, emotionalen, künstlerischen Tradition und Erinnerungskultur, aus der Opa kam und von der er dem Enkel im besetzten Deutschland fünfundvierzig Jahre lang meistens nur flüsternd berichten konnte.“ Es folgen weitere Beispiele, darunter so wenig überzeugende wie Frank Castorp, der in der Berliner Volksbühne „seine völlig rechtlosen Schauspieler wie ein sadistischer KZ-Aufseher anbrüllte“, wobei man sich fragt, wer denn diese armen Opfer in das Theater mit dem „ziemlich frakturhaften Neo-germanen-Schriftzug“ zwangseingewiesen hat. Selbst der politisch irrelevante Kunstkasperl Jonathan Meese kriegt hier sein Fett ab. Das „Zentralorgan der Linksrechtsdeutschen“ sei der SPIEGEL, und das spätestens seit dem Abdruck des „Anschwellenden Bocksgesangs“ von Botho Strauss, diesem „Gründungsmanifest der Neuen Rechten“. Und so weiter. Am bizarrsten ist der Vorwurf gegen den „Zeit“-Kolumnisten Harald Martenstein, dass er geschrieben hatte: „Als ich jung war, hatte ich es in der Familie noch mit einigen echten Nazis zu tun, einige von ihnen liebte ich.“ Das Zitat ist von Biller aus dem Zusammenhang gerissen worden, aber auch so erkennt man, was tatsächlich gemeint war: Dass man sich seinen Großvater, seine Großonkel oder eine alte Nazissen-Tante nicht aussuchen konnte und dass man sie als Kind nicht nach ihren Äußerungen beurteilte, selbst wenn es sich um Unbelehrbare handelte. Dass sie möglicherweise ihren Enkeln gegenüber menschliche Züge zeigten, kann Biller nicht akzeptieren, dessen „Onkel und Tanten von den Deutschen in Babi Yar zusammengetrieben und totgeschossen“ worden waren, ein „Argument“, das jeden Linksrechtsdeutschen verlässlich verstummen lässt.

Wenn man den Text noch einmal durchliest, merkt man, dass Billers manichäische Einteilung eigentlich nicht jene in die heute obsolet gewordenen Begriffe Links und Rechts ist, sondern eine in Antisemiten und Nicht-Antisemiten (der Philosemit ist bekanntlich nicht das Gegenteil des Antisemiten). Unter den Namen, die er aufzählt, von den historischen bis zu den aktuellen, ist keiner, dem er nicht wenigstens verdeckten und unbewussten Judenhass vorwirft. Dafür genügt ihm auch Marginales: „Oder einer der [SPIEGEL]-Redakteure empfiehlt für die Sachbuchliste des NRD und der ,SZ’ einen modernen antisemitischen Bestseller aus Kubitscheks Antaios-Verlag.“

In Deutschland und Österreich nimmt der Antisemitismus zweifellos zu, auch wenn er noch nicht das Ausmaß der Entwicklung in Frankreich erreicht hat. Aber warum darüber nicht Klartext schreiben statt eines Linksrechtsgefasels ohne Erkenntniswert? Und noch ein Wort zum Schriftsteller Biller: „die böse Wehrmacht und die noch bösere SS“ – so kann man nicht schreiben, nicht einmal in einfacher Sprache.