Wer braucht den Wolf?

/ Kurt Bracharz

In der Alpenvereinszeitung ‘Bergauf’ hat der Bärenanwalt und Wolfsbeauftragte Georg Rauer einen angenehm ausgewogenen Artikel zum Thema ‘Rückkehrer Wolf’ veröffentlicht, der auch so betitelt ist. Nun ist der Wolf aus dem heutigen Staatsgebiet von Österreich schon im 19. Jahrhundert verschwunden (ich wollte zuerst ‘ausgerottet worden’ schreiben, das kam mir dann doch zu stark vor, aber das ‘verfolgt und zurückgedrängt’ im Artikel scheint mir auch zu schwach formuliert), und ich empfinde die Zuwanderung von Wölfen aus östlichen Nachbarländern nach über 100 wolfsfreien Jahren nicht wirklich als eine ‘Rückkehr’, weil in diesem Wort eine Berechtigung mitschwingt. Man kehrt z. B. in die Heimat zurück, aber nur in die eigene: Wenn Donald Trump heute in die Pfalz zöge, wäre er ein Zugereister und keineswegs ein ‘Rückkehrer’, nur weil sein Großvater von dort 1885 in die USA übersiedelt ist.

Der Wolf ist jedenfalls wieder da, die dem Artikel beigegebene Österreichkarte zeigt fünf DNA-Nachweise und ebenso viele Foto-Nachweise. Rotkäppchen hat er bis jetzt noch keine gefressen, aber das kann noch kommen. In Rauers Zwischenüberschrift ‘Kaum Gefahr für Wanderer’ muss man dem Wörtchen ‘kaum’ besondere Aufmerksamkeit schenken, die ähnliche Formulierung ‘keine Gefahr für Wanderer’ hätte eine andere Bedeutung. Wie fast alle Wildtiere geht der Wolf dem Menschen möglichst aus dem Weg, aber vermutlich gibt es auch alte, halb taube Wölfe mit nachlassendem Geruchssinn, die aber durchaus noch ein funktionierendes Gebiss haben, wenn man ihnen plötzlich gegenübersteht, weil keiner den anderen rechtzeitig bemerkt hat. Man kann völlig zu Recht auch von Haushunden sagen, dass sie ‘kaum eine Gefahr für Menschen darstellen’, selbst wenn gerade mal wieder ein Pitbull ein Kind zerfleischt hat. Rauer schreibt: ‘Wölfe sind nicht gefährlich, aber sie haben das Potential, gefährlich zu werden.’ Der letzte Todesfall durch eine Wolfsattacke ‘in Europa westlich von Russland’ ereignete sich 1974 in Spanien, ‘liegt also fast fünfzig Jahre zurück’. Ich erinnere mich allerdings, vor vielleicht 20 Jahren gelesen zu haben, dass in einem Außenbezirk von Bukarest ein japanischer Reisender von einer Meute verwilderter Hunde getötet wurde. Gut, der Haushund stammt vom Wolf ab, wird aber auch bei Verwilderung keiner mehr. Wölfe reißen natürlich Schafe und andere Nutztiere auf Weiden und Almen. Rauer: ‘Eine besondere Herausforderung wird die Einrichtung von Herdenschutzmaßnahmen auf Almen. Hier fehlt es, abgesehen von der Frage der Finanzierung, an Know-how, erfahrenen Hirten und ausgebildeten Herdenschutzhunden. Außerdem bedarf es der Bereitschaft der Almbauern, neue Wege zu gehen.’ Nun, ich bin kein Almbauer, kann mir aber vorstellen, dass ich die Frage aufwerfen würde, warum ich neue Wege gehen muss, wenn man stattdessen dem Wolf seine alten – die sie eigentlich gar nicht sind, siehe oben – vermiesen könnte. Was zur zentralen Frage führt: Wer braucht eigentlich die Wiederkehr des Wolfes in Österreich (und Bayern, Schweiz etc.)? Rauer beantwortet diese Frage genau so wie alle anderen Autoren, die ich in den letzten Jahren zu diesem Thema gelesen habe: ‘Der hohe Schutzstatus [des Wolfes, Anm.] ist Ausdruck des Stellenwerts, den der Gedanke, Natur in ihrer Gesamtheit zu erhalten, in der Gesellschaft genießt.’ Wo bitte gibt es in der mitteleuropäischen Parklandschaft noch etwas, das man sinnvoll als ‘Natur in ihrer Gesamtheit’ bezeichnen könnte? Kann der Wolf die in den letzten Jahrzehnten verschwundenen Vogel-, Reptilien-, Amphibien- und Insektenarten ersetzen? Klar, den in Städten Lebenden ist da nichts aufgefallen, und auch auf den Lande können die Jungen nicht mehr wissen, wie viele Schmetterlinge es vor dreißig Jahre noch gab und wie laut die Heuschrecken und Grillen in einer Wiese werden konnten. Wer den rapiden Artenschwund aber miterlebt hat – und sei es auch nur in einem sehr begrenzten geographischen Gebiet – , kann nur sardonisch lächeln, wenn er von der ‘Natur in ihrer Gesamtheit’ reden hört.