Aus der Geschichte lernen

/ Haimo L. Handl

Die Geschichte liefert keine Rezepte. Sie wiederholt sich nicht. Das Eine ähnelt dem Anderen, aber nie handelt es sich um das Gleiche. Vertiefte Geschichtskenntnisse helfen allerdings dem Verständnis gesellschaftlicher Entwicklung, was woraus folgte, soweit wir es übersehen können im Rückblick, soweit Daten, Spuren, Indizes vorhanden sind, die gedeutet werden können und wollen. Aber Historie ist keine Schatzkammer, aus der man Lösungen herauspickt, wiederholt, was einmal unternommen worden war. Die Schlussfolgerungen können als aus diesem Lernen beeinflusste Handlungen erfolgen, aber mehr auch nicht. Sie unterliegen genuinen Bedingen, unterliegen aktueller Verantwortung (auch wenn diese, wie gegenwärtig üblich, verweigert wird).

Heute sind einige Geschichtskundige leicht versucht, die gegenwärtige Kriegs-Terror-Lage mit dem Dreißigjährigen Krieg (1818-1648) zu vergleichen, der nach desaströsen Verheerungen mit dem sogenannten „Westfälischen Frieden“ beendet wurde. Alle Lehren die man aus dem Hegemonialkrieg ziehen kann, aus der unseligen, tödlichen Rolle, die die Religionen und Kirchen dabei spielten, aus der menschenverachtenden Ignoranz der Kriegsparteien, die erst dann bereit waren zu verhandeln und zu einem „friedlichen“ Ergebnis zu gelangen, als sie dem unerträglichen Druck der Kriegsverwüstungen nicht mehr standhalten konnten, können aber keine Handreiche, keine Folie für unsere aktuelle Politik sein, für die vielen Kriege, die der Westen führt, für die wenigen, die er jetzt in Europa seitens der IS-Terroristen zu erleiden hat. Das Lernen aus der Geschichte erfolgt anders, muss anders erfolgen.

Einen wichtigen Aspekt bilden die leitenden Werte, das Sinngefüge, das daraus resultierende Nomen- und Ordnungsverständnis. Unsere Gattung hat sich im Zuge der Evolution nicht wesentlich geändert. Aber unsere Mittel sind reicher und mächtiger geworden. Gewisse primitive, atavistische Verhaltensweisen erzeugen andere Effekte als früher, nicht weil sie sich geändert hätten, sondern weil die Tragweite und Nachhaltigkeit durch den hochentwickelten Mitteleinsatz zu ganz anderen Resultaten führt als früher. Was früher sich auf Schlachtfelder, Landstriche oder Städte bezog, überzieht heute ganze Staaten oder, wenn es einer der unvernünftigen Kriegsparteien gelingt, Weltteile, wenn nicht die Welt, falls chemische, biologische oder atomare Waffen eingesetzt werden.

Würde der „Westen“ seine Politik nach den eigenen, propagierten Schlüsselwerten ausrichten, gäbe es keine kriegerische Hegemonialpolitik, keine flächendeckende Spionage und Observanz, keine Abschaffung der Privatsphäre, keine extremen Verletzungen der Menschenrechte. Klar gäbe es Konflikte, die aber anders geartet wären und anders gelöst werden könnten. Sobald aber der Grundwert ein inhumaner ist, wie er sich im primären Profitstreben äußert, wie er sich in der frechen Ideologie manifestiert, „Wir haben Recht“, weil „wir“ die Macht haben, wenn dieses temporäre Recht des vermeintlich Stärkeren durch Verfolgung der eigenen Machtinteressen, koste es, was es wolle (man sollte den Kern dieser Aussage lange reflektieren!) durchgesetzt wird, kann von einer humanen Vernünftigkeit nicht mehr gesprochen werden.

Was unsere Leitmacht und ihre Vasallen und Verbündeten unter „Frieden“ und „Freiheit“ verstehen, meint weder Frieden noch Freiheit. Es meint nur jenes Machtgefüge, das ihnen die erfolgreiche Fortführung ihrer Geschäfte erlaubt, koste es, was es wolle. Und es kostet zuviel. Auch ohne den gegenwärtigen Terror kostet es zuviel. Der Terror bietet sogar einen Anlass der weiteren Verdeckung, der gefinkelteren Lüge, des umfassenderen Betruges. Dass der allgemeine Terror trotzdem nicht hinnehmbar ist, auch in Kriegsländern, ist die Kehrseite. Aber er darf nicht verkannt und bequem instrumentalisiert werden, was jedoch geschieht.

Was jetzt abläuft in den internationalen Versuchen, den Bürgerkrieg in Syrien zu beenden, ist eine Demonstration der Kriegsfortführung mit anderen Mitteln. Der französische Chefbuchhalter François Hollande versucht an der Aufgabe zu wachsen, am Ausnahmezustand, um seine und seines Landes untaugliche Politik zu „verteidigen“. Die europäischen Partner folgen willig. Insgesamt weiß sich die Leitmacht USA gestärkt durch die Verbündeten. Insgesamt wird also die Hegemonialpolitik der Führungsmacht unterstützt, und nicht eine Friedensinitiative. Wie soll man da allen Wertebeteuerungen Glauben schenken, wenn das Handlungsmuster ganz schnöden, alten, profanen Maximen folgt? Täuschung, Lüge und Selbstlüge taugen nur so lange, als das Machtgefüge hält und nicht völlig zusammenbricht.

Deshalb wird der „Krieg gegen den Terror“, den das kriegerischste Land zu Beginn des Milleniums ausgerufen hat, keinen nachhaltigen Erfolg haben können. Ich meine damit nicht, dass man dem Terror wehrlos ausgesetzt sei, weil man ihm nicht entgegen könne. Sogar als Unrechtsstaat könnte man ihm entgegnen, wenn man die Basen der Terroristen zerstört. Wollte man das wirklich, wäre es schon längst unternommen worden. Den Nichterfolg sehe viel weiter und tiefer. Er liegt in der extremen Verdinglichung des Menschen zum Menschenmaterial. Dieses Material wird zwar nicht „behandelt“ wie KZ-Häftlinge, aber im selben Geist der Verwaltung, der Ausbeutung, der Berechnung des Nutzenfaktors. Schließlich rechtfertigt sich diese Haltung durch den schlichten Satz „Der Zweckt heiligt die Mittel“. Und da der eigentliche Zweck der ungebremste Profit ist, die Sicherung der Herrschaft, wird auch die Konvertierung der Person in eine bilanzierbare Sache, ein Ding, als Aufwertung und nicht als Entwertung gesehen. In diesem „Licht“ bedeuten Grundwerte von „Person“, „Würde“ oder „Freiheit“ nicht mehr, was die Worte sagen (könnten), sondern was das Kriegsprogramm meint. Darüber nachzudenken, könnte einen Teil des Lernens aus der Geschichte bilden.