Eigentlich hätte ich

/ Haimo L. Handl

Eigentlich hätte ich heute über Literatur schreiben wollen im Hinblick und Ausblick der Frankfurter Buchmesse. Nicht einfach von der Riesenmesse, den Erfolgszahlen, den Preisen, den Stars, dem florierenden Lizenzmarkt. Auch von Büchern und dem Phänomen, dass noch konventionell gelesen wird. Von den Auswirkungen der Globalisierung auf eine Art internationaler Literatur als einer, die leicht übersetzbar GLEICHE Inhalte, prognostizierbare Themenwahl und „Problembehandlung“ äußert, die ihre mögliche Eigenheit verloren hat, gar nicht gewinnen will, damit sie eben INTERNATIONAL gleich, schnell, leicht verkäuflich ist, die bevorzugt übersetzt wird, um den Markt gezielt zu überschwemmen, die tatsächlich überschwemmt. Also auch von Ideologie und instrumentalisierter Seichtheit, die auch die vielen alten, bekannten, renommierten Preise nicht übertünchen können, auch wenn einige Kritiker kräftig mithelfen, als ob der Kaiser doch neue Kleider trage…

Die Politik unserer Union zur Lösung der Flüchtlingsproblematik drängt sich aber verbietend dazwischen. Wie über Literatur und Kultur reden, angesichts neuer Kriege, ungeahnter Unterstützung des islamofaschistischen Systems in der Türkei, jetzt, kurz vor den Wahlen, praktisch eine Wahlhilfe für jenes Regime, das die Kurden ein für alle Mal „erledigen“ will? Wie über Kunst und hehre Werte reden, wenn die politische Praxis auf einen Vollzug amerikanischer Vorgaben hinausläuft, auf Umsetzung der unseligen Hegemonialpolitik des Westens (die Leitmacht IST der Westen!), auf Krieg und Verderben?

Just in Zeiten dieser skandalösen Kalamitäten ist vom Richterspruch der Großen Kammer des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) zu lesen, der die Schweiz rügt und verurteilt, sie habe mit ihrem Strafverfahren gegen einen türkischen Leugner des Armeniengenozids das Recht der Meinungsfreiheit verletzt, weil den armenischen Genozid leugnen nicht strafbar sei, wohl der der Holocaust an den Juden. Ohne auf die Historie wertend einzugehen, einfach so, nach formalen Kriterien: Der Leugner, der türkische Nationalist Dogu Pedrincek, habe, so lese ich in der Neuen Zürcher Zeitung, „bei seinen Auftritten eine Frage öffentlichen Interesses behandelt und dabei nicht zur Gewalt oder Hass aufgerufen. Der Türke sei allein wegen seiner abweichenden Meinung bestraft worden, wobei die Schweiz international nicht verpflichtet gewesen sei, sein Verhalten zu ahnden. Großen Wert legt der EGMR darauf, dass die Perincek-Angelegenheit nicht mit der Leugnung des Holocaust zu vergleichen sei und dass sich an seiner bisherigen Rechtsprechung nichts ändere. Für die Leugnung der Judenverfolgung wird eine strafrechtliche Sanktion als gerechtfertigt angesehen, weil sie regelmäßig eine antisemitische Ideologie ausdrücke.“

Man muss diese quere Rechtsauffassung im Lichte der Realitäten unserer Realpolitiken lesen, die selbst ein Resultat krisengeschüttelter Gesellschaften sind, ohne verbindliche Werte, orientierungslos. Jetzt also die richterliche Bestätigung schwarz auf weiß´, wörtlich. Man könnte sagen, auch die Leugnung des Holocaust soll nicht strafrechtlich verfolgt werden, schließlich beinhaltet die Meinungsfreiheit als Freiheit der eigenen Meinung auch das Recht zur Abweichung, zur Lüge. Es ist schlicht unhaltbar, hier qualitativ zu unterscheiden und einmal von negativer Ideologie zu reden, ein anderes Mal das Fehlen internationaler Auflagen als Grund für eine andere Bewertung zu nehmen und das noch mit den Bemerkungen zu garnieren, der Leugner habe ja nicht zur Gewalt aufgerufen. Welcher Holocaustleugner rief konkret zu Gewalt und Hass auf? Oder, ist es nicht selbst Ideologie, den Holocaust als Sonderfall herauszunehmen, alles andere dagegen abzuwerten? Würden die Menschenrechte und das auf ihnen basierende Rechtsverständnis beachtet werden, müsste entweder die Meinungsfreiheit gewährleistet sein, was nicht der Fall ist, oder, wenn nach politischer (ideologischer) Argumentation das verneint wird, müsste zumindest einheitlich nach diesem Verständnis geurteilt werden (Rechtsgleichheit ohne Qualifikation), weil sonst einer Willkür der jeweiligen Deutungshoheit das Wort gesprochen wird. Genau diese „geistige“ Willkürpolitik nationaler Deutungshoheit stärkt der EGMR. Was für eine Schande!

Eigentlich hätte ich auch über die komplexe Problematik von Übersetzungen schreiben wollen, das Faszinosum, dass aus Sprachen in andere Sprachen übertragen wird, dass wir aufgrund solcher Übersetzungen Texte aus anderen Kulturen und fremden Sprachen eröffnet erhalten. Gerade hierin wird die Frage von Form und Inhalt brennend, interessant und bedeutsam. Wie wird sich die schleichende Gleichschaltung oder Gleichausrichtung auswirken? Wie von einer Fremdsprache reden, da „fremd“ oder „Fremdes“ geleugnet wird, als ob wir alle gleich seien? In welchem Dilemma bewegen sich Übersetzer, welcher Druck der vorherrschenden „Weltsprachen“ verhindert Eigenheit, Regionales, Lokales, ja Individuelles? Es gäbe viel zu bedenken, abzuwägen, zu vergleichen, zu bewerten. Wie sinnvoll wäre das im Gegenlicht der einfachen politischen Programme, der ideologischen Richtersprüche?

Wäre die Beschäftigung mit Literatur ein Luxus oder eine Selbsttäuschung, eine Flucht in projizierte Gedankenwelten? Ist es wichtiger, auf die Blockadepolitik just jener neuen Unionsländer einzugehen, die jetzt in der Flüchtlingskrise ihren egoistischen, abweisenden Eigensinn unter Beweis stellen? Staaten, die vor wenigen Jahren selbst Flüchtlingsströme produzierten, die andere europäische Länder aufnahmen? Staaten, die konkrete Hilfe zur Integration in die EU erhielten, und die jetzt sich abgrenzen, einbunkern? Es werden Schutzzäune errichtet, Grenzen abgeriegelt. Nun, das ist nicht neu. Mauern und Zäune gibt es vielerorts. Israel, das gelobte Land, hat ja die höchste Mauer gebaut als Teil seiner Bunkerpolitik, was nicht weiter stört, weil ja Gründe dafür vorliegen, weil die Deutschen die Deutsche Mauer nicht vergleichen mit der jüdischen, weil die in Israel ja vernünftig ist, notwendig. Es herrscht eine Bewertungsungleichheit, ähnlich jener hinsichtlich der historischen Leugner. Es herrscht eine Ungleichheit in der Frage Solidarität und europäischer Werte.

Soll eine Art von Pseudoverständigung über die Literatur(en) Ersatz bieten? Ja, es ist schlimm, aber… Machen wir also weiter, als ob wir kultiviert wären, human, sozial, verantwortungsvoll. Ich kann und will aber die Künste, die Literatur nicht „gesondert“ sehen, in einer zugewiesenen Spielzone, als ob jene der verbürgte Freiraum sei. Irgendwie fängt die Große Lüge, die uns leitet und beherrscht, alles andere mit ein. Das macht Lektüre, auch der besten Literatur, die es immer noch zu finden gibt, bitter.