Reste und Überreste

/ Haimo L. Handl

Die Literatur im Allgemeinen bietet oft anschauliches, eindrückliches Material über Denkbewegungen, Wertstrukturen und Konflikte, die das historische Wissen in einer Weise aufzuhellen vermögen, wie es die eigentlichen Dokumente und Berichte nicht erreichen, weil zu deren Verständnis das entsprechende Kontextwissen notwendiger, ja wesentlicher ist.

Gedenkdaten, Kalenderrituale werden als hilfreiche Anlässe für Fokussierungen genommen; alte Poems, wie von Dante Alighieri werden gelesen, neu gedeutet, bieten die Folie für ein Denken des Mittelalters, wie es uns heute erscheint, und nicht wie z. B. vor 50 Jahren, dessen tradiertes Bild den meisten den Rahmen gibt. Biografische Daten gesellen sich hinzu und man liest nicht nur von Walter Benjamin oder Rudolf Borchardt, sondern auch von deren Zeiten und Denken. Das Wiederbedenken, eine Art von Anverwandlung, ist nicht nur eine Wiederbelebung, der jeder Text, insbesondere der literarische harrt, sondern eine Rekonstruktion, die heute, hier und jetzt Sinn macht, machen muss. Das Kontrastieren von so erkanntem, erahntem Vergangenen mit den eigenen Wertstrukturen, soweit sie einem überschaubar und erkenntlich sind, bietet als Arbeit eine Vorstellungswelt von früher und heute, bietet aber, ganz wichtig, den Ausgangspunkt für Überlegungen hinsichtlich der Entwicklung, der sich entfaltenden Zukunft.

Manchmal treten Sätze aus Briefen oder Tagebüchern oder Romanen, ja Verszeilen aus Poems einem entgegen, als ob sie Menetekel wären, alte Vorahnungen, die sich inzwischen bewahrheiteten haben oder, im Gegenteil, die Gespinste blieben, obwohl sie so realistisch angestellt worden waren. Mir unterläuft das immer wieder in meinen Lektüren; es bereichert das Denkfeld, steigert die Komplexität der Bilder und Vorstellungen, der Gedankengebäude weit über den eigentlichen Text hinaus.

Kürzlich griff ich wieder zum Briefwechsel zwischen Hugo von Hofmannsthal und Carl J. Burckhardt, der 1919 in diplomatischer Mission ins Wien der zerborstenen, zerstörten Monarchie kam, in Kontakt mit Hofmannsthal geriet, woraus sich eine Freundschaft entwickelte, die nur der frühe Tod von Hofmannsthal 1929 beendete. Der Gedankenaustausch betraf nicht nur Fragen der Literatur, des Dramas, der Libretti und Musik, sondern, nicht verwunderlich, der politischen Lagen, des Erbes, der düsteren Zukunft, der Andringlichkeiten der Tagesgeschäfte als auch der Ausblicke in die Zukunft, wie sie eben durch diese damalige Gegenwart im Resultat des großen, überaus grausamen europäischen Bürgerkrieges, der zu einem Weltkrieg geweitet wurde, sich aufzuzwingen schienen, drückten und pressten, so dass die Ohnmacht gegenüber den Verhältnissen schier unaushaltbar erschien, außer man war auf der Siegerseite. Zwar wird die Geschichte immer von den Siegern geschrieben, aber das Leben muss auch für die Verlierer weitergehen, auch wenn sie ihrer Wahlmöglichkeiten beraubt sind. Die Fragen richten sich nach dem WIE zuerst, und dann, viel später, nach dem Wohin, und noch viel später, vielleicht, nach dem Warum.

Gleich zu Beginn findet man in zwei Briefen Folgendes: „Der Tod der großen einfachen Vorstellungen, die uns wahrhaft zu erschüttern vermögen, ist sehr nahe. Das Sterben der Schönheit, wie sie die alte Welt besaß, ist erfolgt. Alles Verklärte verlöschte unter Höllengelächter, reiner Ton, wahres Wort werden ungern gehört(.) … Wer das Böse an solchem Vorgang aufzeigt, wird als Feind verschrieen, und Widersacher ist der, welcher kam, um zu binden anstatt zu lösen.“ (Burckhardt an Hofmannsthal, 1919)

„Alles strömt in unser Amt, unsäglich betroffene Elende, denen alles geschah, Flüchtlinge, aber auch ebensoviele Hochstapler und Abenteurer. Das alles wie nach Westen, nach Westen soweit als möglich, um den Planeten herum, kämpfend, klagend, bettelnd oder schwindelnd, um dann schließlich wieder dort anzulangen, von wo der große Strom sie weggetrieben hat. Welche Zeit, die keine Zeit mehr ist, welch ein Raum, alles Feste fließend, Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft und Hoffnung, alles durcheinander geschüttelt, aufgelöst, in einem Element von Verzweiflung oder böser Absicht. Kein Ablauf eines Geschehens mehr, kein Anfang und kein Ende.“ (Burckhardt an Hofmannsthal, 2.2.1920)

Wie erfahren wir Heutige unsere Krisen, die durch die Kriege ausgelöst und geschürt werden, durch eine verantwortungslose Profitwirtschaft, deren Boden aber eine menschenverachtende Wertstruktur ist, in welcher jeder nur ein Kapitalposten bildet, Humankapital als Teil des eigentlichen Kapitals, als berechenbare, verfügbare Masse? Wo erkennen wir Reste, aus denen noch etwas zu retten wäre, wo sehen wir Überreste als Überbleibsel (das Übriggebliebene), wie Leichname von vorher lebendigen, jetzt vernichteten Menschen? Im Deutschen zeigen sich in gewissen Worten feine Unterschiede: Ein Rest ist kein Überrest und eine Vorahnung nicht einfach eine Ahnung. Wer weiß die Feinheiten, wie geht er damit um?

Aus den Alltagsbeobachtungen, den Ahnungen und Vorahnungen von Burckhardt oder Hofmannsthal geht mehr hervor als persönliche „Betroffenheit“ oder eigener Schmerz. Was befähigte die beiden Konservativen zu hellen Einsichten, die sich, leider, allzu schnell bewahrheiteten? Was nützte ihr Wissen, und wem? Letzteres ist überaus bedeutsam: Was und wem nützt unser Wissen? Wissen alleine reicht nicht. Es bedarf des Einsatzes, der Umsetzung, kurz, der Praxis. Darin sollte es sich bewähren. Hier und heute demonstrieren wir eine tiefe gesellschaftliche Verwirrung, eine existentielle Orientierungslosigkeit. Schon das Handeln nach Grundsätzen (Sätzen, die gründlich sind, begründet) und Leitwerten (Werten, die nach Grundsätzen leiten) hilft, besonders, wenn sie nicht einfach als fix und fertig (ewig) verstanden werden, sondern einer permanenten Kritik, Beobachtung und möglicher Revision unterliegen, weil nichts bleibt, wie es ist oder war, weil ES in Bewegung ist, dieses ES aber von uns allen gestaltet und bewegt wird, wenn auch in unterschiedlichem Ausmaß.