Distanzlosigkeit

/ Haimo L. Handl

Die internetgeübte Generation kommuniziert praktisch permanent. Einzelne sind mit vielen dauernd in Kontakt. Eine neue Art von Rhetorik hat sich eingestellt, und das WIE überwiegt das WAS, wie früher, nur dramatischer und drastischer. Es gilt weniger die Botschaft, als der Kommunikationsakt, der möglichst schnell und häufig erfolgt. Das Kommunikationsverhalten entspricht mehr und mehr einem direkten Stimulus-Response-Spiel, möglichst unverzögert, spontan. Quantität hat Vorrang, ist zur eigentlichen Qualität und Bedeutung geworden.

Das zeigt sich vor allem in der Überwachung und Kontrolle. Dort kommt es nicht oder weniger auf die Botschaften, die Inhalte an, sondern auf die formalen Kommunikationsdaten: Wer kontaktiert wann wen wie lange, von wo und womit? Damit lassen sich ausgeklügelte Profile erstellen, das reicht zur Verfolgung. Das WIE überwiegt in fast fataler Weise das WAS, weil es auf die Qualität (Inhalt) nicht mehr ankommt.

Ein anderes Phänomen wirkt wesentlich ein, auch wenn es vielen Beteiligten nicht klar ist, das der Distanzlosigkeit. Die virtuelle Kommunikation ist ortlos. Begünstigt durch die vermeintliche Anonymität rücken viele anderen so nahe, wie sie es in sonstiger Kommunikation nie unternehmen würden. Die Welt ist zum Dorf geworden und jeder User oder Kontakt ein „Freund“. Obwohl diese Art Nähe sich von der bisherigen in der realen Welt unterscheidet, stellt sich ein Bild von Gemeinschaft, Kenntnis und Nähe ein, das keine wirkliche Abgrenzung gestattet, keine Ferne, nur Nähe. Damit reduziert sich das Private, sein wichtiger Bereich, der nur durch Grenzziehung und Distanz in der Unterscheidung möglich ist. Die Sphären mischen sich diffus, lassen Grenzen verschwimmen.

Wenn früher pöbelhaft geflucht und gezetert wurde, beschränkte sich das meist auf die Lokalität; selten gelangten verleumderische oder verächtliche Beschimpfungen in die Medien, da diese doch eine Filterung, allein schon aus rechtlichen Gründen, vornahmen. Teilnehmer der social media sind ihre eigenen Medienunternehmer. Es gibt keine Filterfunktion. Das direkte Wort gelangt ungeprüft, ungewogen, direkt an den oder die Adressaten. Der sogenannte shitstorm belegt minütlich diesen Auswurf und Abhub an Negativität.

Als die Nazis „Juda verrecke“ brüllten, gewann der Ausruf Bedeutung, als viele mitmachten, mitbrüllten und schließlich der tätlichen Umsetzung folgten. Es fing mit Bildern und Worten an, es endete im realen Vollzug: das Opfer wurde nicht nur beschimpft und verbal gedemütigt, sondern geschlagen, bespuckt, gefangen, gefoltert, ermordet. Der Triumph der Distanzlosigkeit gipfelte in der Aufhebung des letzten Restes von Menschenwürde, in der barbarischen Verwandlung des Menschen zum Ding, das „entsorgt“ wurde.

Würde bedarf einer unverletzten Distanz. Das Private ebenso. Privatheit, Persönlichkeit und Würde hängen zusammen. Menschen, denen man die Persönlichkeit abspricht, die Privatheit, werden zu Dingen, zu Waren verwandelt, die man „handelt“ und „behandelt“ sowie schließlich „sonderbehandelt“.

Während des letzten großen Krieges schrieb Theodor W. Adorno im amerikanischen Exil seine „Minima Moralia“. Wie viele andere konstatierte er wesentliche Kriterien der faschistischen Gesellschaft und ihrer Deformationskraft. Alarmierend war für ihn, dass die Ansätze dazu auch in den anderen Gesellschaften existierten. Er schrieb: „Die Entfremdung erweist sich an den Menschen gerade daran, dass die Distanzen fortfallen. Denn nur solange sie sich nicht mit Geben und Nehmen, Diskussion und Vollzug, Verfügung und Funktion immerzu auf den Leib rücken, bleibt Raum genug zwischen ihnen für das feine Gefädel, das sie miteinander verbindet“. Und weiter, noch deutlicher: „Hinter dem pseudodemokratischen Abbau von Formelwesen, …, meldet die nackte Roheit sich an. Das direkte Wort, das ohne Weiterungen, ohne Zögern, ohne Reflexion dem andern die Sache ins Gesicht sagt, hat bereits Form und Klang des Kommandos, das unterm Faschismus von Stummen an Schweigende ergeht. Die Sachlichkeit zwischen den Menschen, die mit dem ideologischen Zierat zwischen ihnen aufräumt, ist selber bereits zur Ideologie geworden dafür, die Menschen als Sachen zu behandeln.“

Was damals extrem klang, ist heute gewohnt. Die Verdinglichung und Entfremdung haben derart zugenommen, dass ihre Benennung meist nur noch müde Reaktionen evozieren: „Na und?“. Aber die neue Dimension der Virtualität über die social media erhöht die Qualität der Quantität. Der verwaltete Mensch steigert seinen Anteil an der eigenen Verdinglichung, er reduziert effizienter fast jeden Rest von Distanz. Er bereitet den Boden für eine neue Sachlichkeit, eine neue Inhumanität.