Demokratische Kunst

/ Haimo L. Handl

Kunst wird schon lange „demokratisch“ gepflegt. Die offiziellen Richtlinien für Kunstförderung und -politik sind darauf ausgerichtet, allen nicht nur den Zugang zu ihr bestmöglich zu ermöglichen, sondern über Kunst auch jene Werte zu vermitteln, von denen man meint, dass der Einzelne sie in unserer modernen, pluralistischen, globalisierten Welt brauche, um sinngebend erfüllt sich zu stärken, zu integrieren, zu orientieren.

Keine l’art pour l’art, kein Elitismus, wiewohl die angesehene, und in vielen Bereichen finanzträchtige elitäre Hochkunst (Umwegrentabilität teurer Festivalkunst) als Kulturindustriezweig eine eigene Wertschätzung und Förderung erfährt, die mit Demokratie eigentlich nichts zu tun hat. Schlussendlich gelten, ähnlich den Marktgesetzen, Quantitäten, messbare Erfolge: Käufer, Besucher, Zuschauer, Auktionserlöse, Medienverkäufe, Veranstaltungserlöse oder mediale Aufmerksamkeit. Produkte, die nicht massenhaft ankommen, haben, auch bei hoher oder höchster Qualität, kaum eine Chance, ja nicht einmal eine Existenzberechtigung.

In München existieren drei hervorragende Orchester, eines davon mit Weltrang. Die Stadt ist in den letzten Jahrzehnten enorm gewachsen, das Sitzplatzangebot an Konzertsälen bleib gleich. Jetzt muss der große Konzertsaal im Gasteig umgebaut werden und München fehlt eine adäquate Musikstätte. Die Lösung hätte im Neubau einer solchen gelegen, wie vor Jahren auch versprochen worden war, doch inzwischen regiert der Rotstift, drückt die Wirtschaftskrise, und München erhält kein Konzerthaus.

In den öffentlichen Debatten wurde aber auch moniert, dass es unverantwortlich wäre, über 100 Millionen Euro für einen Kunsttempel zu verschleudern, wo tausende von Wohnungen fehlen, wo die höchsten Mieten zu berappen sind, wo Mangel herrscht. Auch Schulen sind in hoher Anzahl in desolatem Zustand, weil kein Geld zur Finanzierung zur Verfügung steht. Und da sollen die Ansprüche und Sorgen der Hochkultur Vorrang haben?

Österreich pumpt sehr, sehr viel Geld in seine Hochkultur, und einiges in die niedere, die demokratisierte. Man könnte fast meinen, je mehr Geld in die Staatstheater und Nobelfestivals fließt, desto lauter werden einige Marketingbemühungen für die demokratische Kunst der Kleinbürger, die es abzusichern gilt, zumindest mit Kleinförderungen am Leben zu erhalten. Die wirklich echte Kunst und Kultur hält sich ja selbst am Markt oder ist geradezu ein profitables Geschäft (Popmusik, Sport). Der Sport als demokratische Kunst wird zwar von eher mafiotisch anmutenden Institutionen regiert, befriedig aber das enorme Kulturbedürfnis der Massen und das Geschäftsinteresse der Sportkulturunternehmer. Es treffen sich also private und öffentliche Interessen.

Kunst wird auch in der Therapie als Heilmittel eingesetzt und floriert mit dem Bioboom und den esoterischen Kulten. Kunst ist nicht nur Ware, sondern auch Wertevermittler, Religionsersatz oder -bereicherung, Identifikationsmittel und Integrationswerkzeug. Kunst und Kultur sind Erziehungsmittel, haben eine Aufgabe zu erfüllen.

Der Aufgabenkatalog wird nicht mehr so rigide formuliert wie unter den Bolschewiki mit ihrem sozialistischen Realismus oder den Nazivorgaben zur Volksertüchtigung oder den kirchlichen Leitlinien zur moralischen Aufrüstung. Es gelten die Regeln der gender politics, der Integrations- und Inklusionspolitik, eingebettet in das westliche Grundwertsystem, so vage und umstritten das auch sein mag. Wir fordern und leben das hohe Gut der Meinungsfreiheit, aber nur im Rahmen der Anständigkeit, ohne jede Beleidigung. Dort, wo Kritik beleidigt, wird sie verboten, zensuriert und strafrechtlich verfolgt. Die Kunst ist, wie die Wissenschaft, frei, aber sie darf diese Freiheit nur im allgemein Akzeptierbaren äußern, weil sie sonst eben gegen Gender-Regeln verstößt, gegen die rigiden Normen des Anstands und der unbedingten Vorherrschaft der Religionen. Deshalb ist unsere Kultur und Kunst so brav, in der Literatur, der Malerei, den Filmen, der Musik. Es gibt gesonderte Freiräume, wo waghalsige Regisseure mit ihren Interpretationen ausscheren dürfen, aber im Ausstellungswesen darf die gleiche Freiheit nicht beansprucht werden, wie viele Schließungen oder Abhängungen „obszöner“ oder beleidigender Werke beweisen. Auch in der Popmusik gibt es Zensur, weil viele Rapper einfach nicht demokratisch mitspielen und verhetzen und beleidigen.

Das Niedere, Gemeine oder Ausgefallene existiert zwar, wird aber von den anerkannten Kultureinrichtungen nicht massenhaft verbreitet. Die Massenverbreitung erfolgt über das Internet, über die social media. Dort ist der Platz, dem Volk aufs Maul zu schauen. Dort kann, trotz aller Zensurbemühungen und Strafverfolgungsandrohungen, noch Irritierendes, Schockierendes rezipiert werden. Videos von schier unvorstellbaren Gewaltakten kursieren ebenso wie Geheimdaten, die Beherzte einer ungläubigen Öffentlichkeit unterbreiten. Hetzkampagnen und shitstorms sind an der Stundenordnung. Der Kreis der Braven und der Anderen schließt sich – und alles geht weiter. Dieses Weitergehen beweist die tiefe Wertkrise, die Orientierungslosigkeit, die Widersprüchlichkeit unserer im Kern feigen Gesellschaft.