Umkehrung ist nicht Perversion

/ Haimo L. Handl

Die Geldpolitik der Europäischen Zentralbank überrascht sogar Insider und einige Politiker, die doch Einiges gewöhnt sind. Aber die Bank folgt nicht nur ihrer eigenen Logik, sondern der des Kapitals und seiner Profiteure. Dazu gehört der Diebstahl bzw. Raub von Vermögen jener, die „nur“ sparen, die keine „Wertpapiere“ halten. Das geht relativ einfach, weil die Banknoten keine Wertpapiere darstellen und das Sparvermögen durch den ganz, ganz niedrigen Zins an Wert verliert, nicht einmal den Wert behält. Mit diesem Raub, einer Art von Enteignung, wird eine Inflation angepeilt, eine Wertminderung, die, wie jede Inflation, einen weiteren Diebstahl bedeutet.

Inflationen werden nur dann als Enteignung verstanden, wenn sie ganz drastisch und plötzlich eintreten. Die langsame, schier unmerkliche wird nicht nur hingenommen, sondern begrüßt, wie jetzt auch zynisch von Herrn Mario Draghi vertreten: sein Ziel ist nicht die Stärkung des Euros, sondern seine Schwächung, weil diese den Export begünstigt, den Konsum anheizt. Also genau das fördert, was zur Krise führte: Konsum auf Pump, Schuldenmachen, Eigenkapitalminderung.

Erstaunlich, wie die offizielle Politik im Europa der EU ökonomisch abgedankt hat und sich die engen Vorgaben von Bankern vorschreiben lässt. Seit dem die Schleusen für den rücksichtslosen Turbokapitalismus durch Reagan und Thatcher geöffnet worden waren, hat sich die Finanzwelt in einer Weise bereichert, die in der Geschichte beispiellos ist. Die konzentrierte Ausbeutung, der Riesenbetrug, wurden mitermöglicht durch eine halb- oder ungebildete Bevölkerung, die über Jahrzehnte sich politisch nicht entwickelt hatte und ihre zivilgesellschaftliche Organisation auf nur niederem Stand übte, ihre Medien nie kontrollierte und in einem schier fahrlässigen Vertrauen auf öffentlich-rechtliche Medien meinte gut informieret zu sein, obwohl besonders diese als Stützen der Gesellschaften in den ganz zentralen Bereichen kaum Kritik übten, keine relevanten Informationen lieferten.

Schon in den Dreißigerjahren des vorigen Jahrhunderts ging der Schwarze Freitag von den USA aus und stürzte die damalige Welt in die größte Krise, die in den Zweiten Weltkrieg mündete. Vor wenigen Jahren vermochten die USA wieder die größte Finanzkrise nach dem Großen Krieg zu exportieren. Die Welt außerhalb der USA war unterschiedlich gut oder schlecht darauf vorbereitet. Jedenfalls wurden die „Kosten“ von den USA weltweit verteilt; während sich Amerika erholte und wieder die Lokomotive bildet, vermag die EU ihre Krise nicht in den Griff zu kriegen. Zu viele Staaten hatten im Verbund mit den USA hasardiert, betrogen, gezockt, spekuliert, und mussten gerettet werden. Es ging in der EU vornehmlich um eine Rettung des riesigen Finanzapparats, der Banken.

Und jetzt geht es um die Rettung fahrlässiger Finanzpolitiken von unverantwortlichen Ländern, die für ihr Versagen, für ihre Misere, überall Feinde und Gründe ausmachen, nur nicht bei ihnen selbst, In ihrem korrupten System. So erwarten die Griechen zum Beispiel eine Belohnung für ihre kriminellen Machenschaften. Die Leute seien Opfer. Aber diese Opfer haben jahrzehntelang eine hoch korrupte Elite werkeln lassen. Unschuldig? Gälte diese Logik, dürfte man nie die Mitläufer kritisieren und verurteilen, wie man zum Beispiel es zu recht bei jenen macht, die die Nazis ermöglichten. Offensichtlich verändert sich auch das Rechtsverständnis. Was man für die Dreißigerjahre des vorigen Jahrhunderts anlegt, gilt nicht heute. Die Täter sind heute Opfer. Es jammern die Griechen, die Italiener, die Spanier. Wer nicht? Frankreich im Jammertal, dankbar, über die jüngsten Vorfälle abgelenkt den Geist der Grande Nation anrufen zu können, Irland höhnisch die ausländischen Geldgeber zeichnend, dennoch das Geld fordernd. Ach, die Deutschen jammern vergleichsweise wenig. Sie zahlen brav und entschuldigen sich, dass sie so viel exportieren.

Mit so einem Verantwortungsbewusstsein, solchen Politiken und solcher Finanzierung kann eigentlich nur der Zusammenbruch, die große Kollision, der Krieg anvisiert werden. Oder nimmt wer an, dass die katastrophalen Ergebnisse, die zu erwarten sind, so einfach verteilbar sein werden wie bisher? Dass die Mehrheit, wie immer, als „Sklaven“ nur murrt, aber nicht wirklichen Widerstand leistet, dazu nicht einmal in der Lage ist, weil sie nicht aus dem Verblendungszusammenhang heraustreten kann? Ja, das nehmen viele an, und sie werden mit aller Wahrscheinlichkeit Recht behalten. Die Umkehrung der Werte hat sich so vertieft, dass Lüge als Wahrheit gilt, dass Krieg Frieden bedeutet, Geldentwertung Gewinn und Nichtwissen sowie Ignoranz Stärke. „Die Menschen machen ihre Geschichte selbst; aber nicht aus freien Stücken.“ (Adorno)