Hebdo Aftermath

/ Haimo L. Handl

Die unmittelbaren Reaktionen auf den islamistischen Terror in Frankreich, dessen Hauptziel die satirische Zeitschrift „Charlie Hebdo“ war, zeigten nicht nur die Problematik der Polizeiarbeit und ihrer Bedingungen (Überwachung, Datenerfassung und -analyse, gezielte Observation und Infiltration extremistischer Kreise mittels V-Leuten), sondern auch eine stereotype, leicht prognostizierbare Politik, die im militärischen Aktionismus meint ihr Heil finden zu können.

Als kurz darauf in Belgien die Polizei mehrere Razzien gegen Islamisten durchführte, wobei in den Schießereien drei Extremisten getötet wurden, schienen diese Ereignisse wie Beweise für die Notwendigkeit totaler Überwachung ,härtester Verfolgung bzw. auch notwendiger Präventionsmaßnahmen. Als Lösung gilt Anti-Terror (counter terrorism). Das bedeutet eine noch tiefgehendere Militarisierung Europas. Dankbar nehmen Politiker und Parteien die Lage zum Anlass, noch strengere Überwachung zu fordern und zu installieren, die Geheimdienste mit noch mehr Befugnissen auszustatten, als ob sie bisher nicht operieren hätten können, wie sie wollten. Letzteres bedeutet, dass man nun auch offiziell rechtlich absichert, was Praxis war, die jetzt intensiviert werden soll: Abbau von Bürgerrechten zugunsten totaler Überwachung der Gesellschaft, Präventionshaft Verdächtiger, Militäreinsatz im Innern (also nicht nur Präsenz des Militärs in den Städten oder „sensiblen Gebieten“, sondern auch Exekution militärischer „Tätigkeiten“ im eigenen Land), weil es sich ja um einen Anti-Terror-Krieg handelt, dessen Schlachtfeld sich im Innern befindet, weil der Feind sich in der Gesellschaft versteckt hält. Man wird also „Schläfer“ ausspähen, beobachten, jagen, töten.

Diese Militarisierung, vordergründig gedeckt durch ein breites Sicherheitsbedürfnis und eine Angst, die zu schüren Aufgabe fast aller Medien scheint, hebelt gewisse Grundrechte aus, auf die wir im „Westen“ so stolz waren, die zu beschwören die Regierungen, die sie jetzt verletzen oder aufheben, nicht müde werden. So wird die Pervertierung des Rechtsstaates, von Nationen freier Bürgerinnen und Bürger, durchgesetzt und legitimiert. Es sprächen die Fakten, es forderten die Sachzwänge. Unter solchem Zwang gäbe es keine andere Möglichkeiten und Mittel. Eine fatale Entwicklung.

Der ganze Zirkus hinsichtlich freier Presse und freier Meinungsäußerung, die ein zu verteidigendes Grundrecht sei, spricht allen Praxen in Europa oder der Leitmacht USA, die ihren Einfluss in Europa verstärkt, Hohn. Die Republiken oder demokratischen Monarchien in Europa haben dieses vermeintliche Grundrecht schon lange ausgehöhlt, eingeschränkt bzw. aufgehoben. Es herrscht eine Art von Nachzensur, eine intensive Verfolgung von „hate speech“ und Ahndung von Verletzung religiöser Gefühle. Es war der Geist der Gutmenschen, die sich mit der Religionsfreiheit nicht zufrieden gaben, sondern ihren besonderen Schutz einforderten, so dass auch in säkularen Staaten Religionen außerhalb der Bewertung oder Kritik gestellt wurden, weil jede negative Kritik als Verletzung von Gefühlen angesehen wurde und wird, die geahndet wird. Ähnlich der Kritik an Israel, die in den meisten Fällen als antisemitisch hingestellt und verfolgt wird, wird die Kritik an den USA als typisch antiamerikanisch eingestuft, was bald ähnlich der Antisemitismuskeule zur Ächtung führen wird.

Die Religiösen strapazieren diesen „Schutz“ in einer für eine freie Gesellschaft unerträglichen Weise. Das wiederum beeinflusst den öffentlichen Diskurs bzw. den öffentlichen Sprachverkehr. Er erzeugt eine Newspeak. Die Leichtigkeit, mit der Ängste von Gruppen als faschistisch hingestellt werden (Pediga) läßt die alte Gesinnungskultur, diesmal umgekehrt, aufleben: allein das Etikett, die Zuschreibung, die Vermengung, reicht aus zur Aburteilung. Das Problem läge bei den Verängstigten, den Bösen, den Rechten, den Neofaschisten, den Xenophoben oder den Rassisten. Der gut informierte Staat, die besonnenen Medien, haben die korrekte Antwort parat. Das schaukelt sich auf, weil die Guten beweisen müssen, dass es sie gibt, dass die Werte der Toleranz und Integration und was noch alles, praktiziert werden. Deshalb spalten sich die Gesellschaften, erstarken die antagonistischen Lager. Hier gut, dort böse.

Weil die Beleidigten, weil die moralisch Korrekten sich immer stärker gegen die Anmaßungen von allzu freizügigen, aggressiven, bösen Agitatoren oder Künstlern zur Wehr setzen, werden Ausstellungen mit obszönen Inhalten geschlossen, werden gewisse Karikaturen verpönt und bald verboten, obwohl gegenwärtig fast alle behaupten „Je suis Charlie“, Rapper-Auftritte zensuriert oder strafverfolgt als rassistisch, frauenfeindlich etc. Der Beweis braucht nicht fundiert zu sein, weil ja schon die leise Abweichung von der Gutnorm ausreicht zur Aburteilung. Theatermacher, die „Weiße“ einfärben für gewisse Rollen, werden als Rassisten hingestellt. Bald wird keine Schauspielerin mehr Hosenrollen spielen dürfen, weil das ein Affront gegen die Frauen darstellt. Provokation selbst wird zum Straftatbetand (siehe die Aktionen gegen Den Park in Schweden). Alles hat im abgesteckten, approbierten Spielwiesenfeld zu geschehen. Was darüber hinausgeht, wird kriminalisiert. So sieht die neue Freiheit aus. „Today’s insistence on ‚tolerance‘ is really a rallying cry for intolerance.“ (Spiked)

Diese Umkehrung der Werte, gründlicher, als man je hätte annehmen können in den Sechziger- und Siebzigerjahren, als die Gesellschaften sich öffneten, wurde aber nicht aufgezwungen vom Staat, dem abstrakten Wesen, sondern von Politikern, die dem gesellschaftlichen Bedürfnis entsprachen und heute vorgeben, ihm zu entsprechen.

Interessant, das die moralische Entrüstung mehr wiegt als das kritische Nachfragen, als die Vernunft. Nicht, dass alles zu tolerieren wäre. Aber die Gefühlspolitik verhindert gerade ein Besinnen, ein Wissen und Reflektieren der Grundwerte. Anders ist die Abkehr davon nicht zu erklären in dieser Praxis von Oberflächlichkeit, Heuchelei und Lüge. Und wenn, in einem pauschalen Ausdruck gegen diese Verlogenheit, Gruppen von der „Lügenpresse“ sprechen, wird dies als weiterer Beweis der Faschistisierung dieser „Bewegung“ gesehen, weil sie auf einen Ausdruck zurückgreift, der von den Nazis strapaziert worden war, obwohl die niedere Bewertung der Glaubhaftigkeit der Medien europaweit empirisch belegbar ist, im Allgemeinen aber mit anderen Worten kommuniziert wird.

Dieser Vorwurf dokumentiert den verzweifelten Versuch, über einen Slogan die Aburteilung leicht herzustellen. Werden jetzt Demonstranten der gut gebildeten freien Bürgerinnen beweisen, dass es keine Lügenpresse gibt? Wie werden sie das machen? Beinhaltet die freie Meinungsäußerung nicht auch die Freiheit zur Äußerung von so pauschalen Vorwürfen? Hängt die Freiheit von der Wortwahl ab, von der Qualität des Arguments? Ginge es um die Qualität, hätten wir leere Zeitungen und Sendepausen in den Rundfunk- und Fernsehanstalten…

Es kommt also darauf an, wer in wessen Sinn seine Freiheit nutzt. Dass die freie Meinungsäußerung kein allgemeines Recht mehr ist, sondern ein qualifiziertes, ist Ergebnis der Umkehrung der Werte, wie weiter oben erwähnt. Würde diese Praxis auf andere Rechte, zum Beispiel dem Wahlrecht, ausgedehnt, gäbe es keine persönliche geheime Wahl, weil nur die offene, nicht geheime (Ich hab‘ ja nichts zu verstecken!) garantierte, wie konform die freie Wahl erfolgt.

All dies könnte man als zeitbedingte Überreaktionen abtun. Aber wir dürfen uns nicht täuschen. Diese Haltungen erleichtern den Machthabern (auch wieder so ein Metonym, das man eigentlich nicht gebrauchen darf) die totale Überwachung und Militarisierung.

Das Ziel der Militarisierung liegt im Krieg. Seit dem ominösen 11. September wissen wir, müssen wir wissen, dass wir im Krieg leben. Im totalen, weltweiten Krieg gegen den Terror. Krieg setzt eigene Regeln. Krieg hebt gewisse Regeln außer Kraft. Weil das seitdem Erreichte nicht ausreicht zur Sicherung der Profite, der Hegemonie, der Ausbeutung, wird unter Hinweis auf Terrorakte weiter militarisieret. Der Krieg wird intensiviert.

Es ist wie bei Biedermann und den Brandstiftern. Wenn es brennt, muss man löschen. Wenn es öfters brennt, braucht man mehr und bessere Feuerwehren. Aber klug jene, die es nicht dabei belassen, sondern nachforschen, um was für Brände es sich handelt, welche Vorkehrungen zu treffen sind bzw. ob nicht Brandstifter am Werk sind. Wird man der Brandstifter habhaft, ist die Ursache vieler Brände eliminiert. Just diese Suche nach den Brandstiftern wird nicht geleistet. Im Gegenteil, unsere freie Presse und das Klima der freien Meinungsäußerung machen es schwer, über Brandstifter zu sinnen, sie zu suchen und zu finden.