Je suis Charlie

/ Haimo L. Handl

Die brutalen Terrorattacken mit mehreren Toten, im Pariser Raum haben nicht nur Frankreich schockiert. Es war auch nicht nur ein Angriff auf die freie Meinungsäußerung, eine Rache an dem frechen Satiremagazin Charlie Hebdo, das schon öfters Ziel von Angriffen war wegen seiner Karikaturen, vor allem jener, die die Islamisten oder den Islam aufs Korn nahmen. Es war nicht nur, so en passant, die Geiselnahme in einem jüdischen Geschäft. Es war der Terror von Islamisten, die in Allahs Namen, den Gott der Moslems, und im Namen seines Propheten, Mohammed, losschlugen und töteten, um unter Beweis zu stellen, dass die Krieger Gottes ihre Aufgabe gründlich wahrnehmen; so folgten aus ihren Kreisen gleich die Informationen, dass dies erst der Anfang sei.

Natürlich sind diese bestürzenden Vorfälle Wasser auf die Mühlen der Islamophoben. Das ist Seitens der Islamofaschisten auch gewollt, weil nur eine Eskalation der Spannungen, eine Fanatisierung, ihnen hilft, in den Gemeinden ihrer Glaubensschwestern und -brüdern mehr aktive Helfer zu rekrutieren, mehr „Schläfer“ zu wecken und dazu zu bringen, aus der inaktiven Verborgenheit zu treten und endlich die Sprache der Tat zu sprechen. Laut, brutal, tödlich. Nicht nur im Islamischen Staat, nicht nur in Nahost, sondern in Europa und den USA.

Dagegen wirken die Appelle zur Toleranz, zur Rechtsstaatlichkeit, zum Zusammenleben mit den Moslems (oder überhaupt „Minderheiten“) etwas dünn. Die Reaktion und Antworten des französischen Präsidenten oder des britischen Prime Ministers fielen wie erwartet aus, waren aber peinlich und verlogen. François Hollande beschwörte die Einheit der Nation, die hehren Werte der Meinungsfreiheit, der freien Presse, der Menschenrechte. Er flüchtete in Begriffe, die auch und vor allem in Frankreich zu Klischees, zu leeren Hüllen verkommen sind. David Cameron folgte sinngleich. Aber in Großbritannien gibt es keine freie Meinungsäußerung. Die Durchsetzung des Ordentlichen, Regulären, Normalen gebar eine Praxis der permanenten Überwachung und Verfolgung: auf Grund des Schutzes der Religionen werden Verletzungen der religiösen Gefühle streng verfolgt und geahndet, so dass diese sich jenseits jeder Kritik finden, und dies über viele Gläubige auch nutzen und Einsetzen.

Das Verbot sogenannter „Hate Speech“ erinnert an Inquisitionszeiten und die Ahndungen ihrer Übertretungen, auch im Social Web, an Hexenverfolgungen. Dass der Regierungschef eines solchen Landes geistiger Niederhaltung und Verfolgung von den alten europäischen Werten der Rede- und Meinung spricht, ist blanker Hohn. Es ist, beispielsweise, nur wenige Monate her, dass in England Ausstellungen geschlossen oder von bestimmten Werken „gesäubert“, gereinigt wurden, weil sie die religiösen Gefühle von Moslems verletzten. Nicht von Islamisten, sondern von ganz normalen Moslems, die sehr intolerant sich daran stoßen, welche westlichen Unwerte sie bedrängen. Die National Student Union macht es an vielen Universitäten unmöglich, kontroverse Themen öffentlich zu debattieren: sie will die Universität und die Studentenschaft vor Unsicherheit bewahren, die Ordnung nicht stören und Gefühlsverletzungen vorbeugen.

Als Salman Rushdie 1989 durch die Fatwa des damaligen iranischen Staatschef Ruhollah Chomeini als vogelfrei erklärt und zum Abschuss freigegeben wurde, versehen mit Aufforderung an islamische Aktivisten, ihn zu jagen, zu finden und zu töten, wurde vielerorts in Europa, das so vehement auf die freie Meinungsäußerung als Grundrecht pocht, klein beigegeben, gab es keine adäquate Antwort an den Gottesstaat Iran, sondern Debatten, wie später bei den Mohammed-Karikaturen, dass Rushdie eben zu weit gegangen sei usw. Rushdies Schicksal traf viele andere Autorinnen und Autoren; die weniger bekannten genossen oder genießen aber nicht den Schutz, den er noch finden konnte. Eigentümliche Toleranz!

Charlie Hebdo wurde nicht nur von verstörten Moslems und Islamisten gehasst und verfolgt, sondern auch von konservativen französischen Kräften. 2010 gewann das Blatt einen Prozess, den eine reaktionäre katholische Bewegung gegen es angestrengt hatte. Es verbleibt der Unterschied, dass die klagende AGRIF (Allgemeine Allianz gegen Rassismus und für Respekt der französischen und christlichen Identität) es dabei beließ´und wir noch keine Todesschwadrone aus diesen Reihen erleiden müssen.

Meinungsfreiheit gibt es schon lange nicht mehr. Ob jüdische Vertreter Geschichtslügen gerichtlich ahnden lassen, ob moslemische Prozesse gegen vermeintliche Beleidiger führen, oder fundamentalistische Christen Prozesse gegen Immoralisten, immer geht es um Intoleranz, um Anmaßung, um Deutungshoheit von Glaubenssätzen, die auch auf die Wissenschaft, Kunst und das öffentliche Leben ausgedehnt werden.

In so einem Klima des Gegen- und Nebeneinander anstatt Miteinander verwundert es nicht, wenn die Gewaltbereitschaft steigt, wenn der Polizeistaat erstarkt. Das Versagen der Integration, das allzu einseitig dem Staat und der Mehrheit zugeschrieben wird, die prekäre wirtschaftliche Lage vieler Immigranten, tun ihr Übriges zur Malaise.

Aber neben all diesen Aspekten haben wir immer noch nicht die wesentlichen genannt: die Kriege in Nahost, in Afghanistan und im Irak sowie Syrien, das Verhältnis des Westens zum Iran, der „Dauerbrenner“ Israel-Palästinenser. Nicht zu vergessen die Zerstörung Libyens durch die USA (das militärisch sich am Schluss etwas zurückzog), Großbritannien und Frankreich. Aufgrund dieser fatalen Politik liegt das Land heute darnieder, kämpfen Warlords um Einfluss. Diese Kriegspolitik mit all ihren historischen und gegenwärtigen „Kontextfaktoren“ scheint ausgeblendet, obwohl sie das wesentliche Element der Krise ist. Wie bringen unsere Krieger das in Einklang mit Rechtsstaat, Freiheit, Menschenwürde und freier Presse? Wie unerschrocken frei haben denn die europäischen Qualitätsmedien ihren investigativen Journalismus gepflegt? Warum brauchte es Whistleblower, damit gewisse staatskriminelle Aktionen und die größte, umfassendste, tiefgehendste Überwachung durch die NSA, nicht nur allgemein im Internet, sondern gezielt auch gegen befreundete Staaten und Regierungen, bekannt wurden? Weil die freien Medien so frei nicht sind? Oder weil ihre Interessen sich mit denen der Machthaber decken?