Professionalisierung

/ Haimo L. Handl

Die Professionalisierung schreitet voran, für immer mehr Bereiche gilt sie bzw. wird sie gefordert. Das bedingt und fördert ein Ausbildungs- und Zertifikatswesen, welches schlussendlich ein Regime von Experten absichert. Insgesamt werden damit Abhängigkeiten vertieft, Unmündigkeiten verlängert und gestärkt, eine Art von Infantilisierung fortgeführt, kurz, der „verwaltete“ Mensch stärker ein- und angepasst.

Diese Professionalisierung stellt keinen allgemeinen Fortschritt dar, sondern einen partiellen jener, die im Gefüge bestimmte Rollen funktonal übernehmen. In der Angestellten-Gesellschaft werden sie zu Bütteln oder Kollaborateuren einer neuen Unmündigkeit und Unbildung.

Man kann das leicht ablesen an der Bildungsmisere, dem „Pflegeproblem“ und den vielen „Kriseninterventionen“ für soziale und psychische Probleme, die früher als keine galten, heute aber, ganz selbstverständlich, Experten auf den Plan rufen, die helfend einschreiten, auffangen, lenken. Das mag manchmal hilfreich sein, doch sollte man die Kehrseite im Auge behalten.

Sogenannte Schicksalsschläge wie Unfälle, Tod von Beziehungspersonen oder Katastrophen, aber auch mindere „Unregelmäßigkeiten“ (Arbeitsplatzverlust) werden von vornherein nicht mehr als zumut- und persönlich lösbar gesehen, sondern als „Notfälle“, für die es Experten gibt. Fast alles, was nicht der Norm entspricht, wird als „außergewöhnlich“ zum „Fall“ für eine Krisenintervention. (Aber das Leben ist nun mal endend durch den Tod, und die Geburt wahrscheinlich „traumatisch“ [Otto Rank]; die Sucht nach der „Normierung“ und „Normalisierung“ ist eine Täuschung und Grundlage der Lebenslügen.)

Setzt sich diese Entwicklung fort, wird es bald rechtlich problematisch werden, wenn jemand ohne Profession und Zertifizierung im freundschaftlichen Gespräch, im regulären sozialen Kontakt, Ratschläge gibt oder seine Meinung äußert. Wann werden Anwälte solche unbefugten „Helfer“ vor Gericht zerren und den vermeintlichen Schaden durch ungeprüften Rat ahnden wollen? Wann wird es zum gerichtlichen Streitfall, und jemand wie ein Heilpfuscher vor Gericht steht, weil er dieses oder jenes meinte gegenüber einer Person, die nicht gleich den ausgewiesenen Expertenrat kaufte oder über die netten öffentlichen Sozialeinrichtungen anforderte?

„Wer sagt das?“ wird immer einfach zu beantworten sein: es gilt das Zertifikat, die Expertenrolle, weniger das Argument, die Meinung oder gar Zuneigung. Denn persönliches Vertrauen, Zuneigung, gar Liebe, sind keine marktkonformen Dimensionen. Es kommt auf die messbare Leistung an, den Ausweis der Profession.

Familienangehörige werden bald nicht mehr pflegen dürfen. Kranke werden nicht mehr daheim bleiben dürfen, weil ja die Wohnung nicht die Einrichtungen hat wie eine professionelle Hilfsstation, weil die Expertenaufsicht fehlt.

Würde dieses Undenken konsequent weitergeführt, müsste auch die Humanreproduktion organisiert und kontrolliert werden: Nur Paare, die einen Kurs erfolgreich absolviert, die ein Elternzertifikat erworben haben, dürften Kinder kriegen und aufziehen. Eigentlich müssten die Kindergärten als Vorschulen und Abrichteanstalten schon längst Kaderschulen sein, damit die gewünschte Sozialprägung erreicht wird. Das Ziel wäre ein Zustand vergleichbar der früheren Leibeigenschaft: Niemand gehört sich, alle gehören der Gesellschaft, dem Staat, und alle wichtigen Handlungs- und Verhaltensbereiche dürfen nur nach Ausbildungsbestätigungen erfolgen. (Man hat nicht nur einen Führerschein für Automobile, sondern Zertifikate für den Gebrauch von Computern, Kommunikationseinrichtungen, Arbeitsgebiete usw. usf. Es gibt keine allgemeinen Reisepässe, sondern nur solche für spezifische „Erlaubnisräume“…)

Ob Essgewohnheit, Sport, Depression oder Burn out: entweder hat der Experteneinfluss negative Ergebnisse verhindert oder, wenn jemand uneinsichtig nicht mitmachte, wird er beim nächsten gröberen Negativfall „erfasst“ und „behandelt“ sowie „betreut“. Die Betreuungsgesellschaft lässt niemanden aus, denn alle sind gleich und müssen sich in diese Gleichheit einpassen. („Wer anders denkt, geht freiwillig ins Irrenhaus.“)

Das „lebenslange Lernen“ ist nicht ein Versprechen, kein Privileg, sondern eine Drohung und Strafmaßnahme, weil es nur um ein ganz gezieltes Lernen und Zertifizieren geht, um den direkten Einfluss und die Kontrolle jener, die die Macht der Vorgaben haben, der staatlichen Stellen, der approbierten und akkredidierten Zertifizierungsstellen. Freiheit nur in jenem Rahmen, auf jener Spielwiese, die anerkannt und gestattet ist. The „Brave New World“ trifft sich mit jener aus „1984“ (Orwell konnte sich noch keine Totalüberwachung wie durch die amerikanische NSA vorstellen!). Diese Kombination schickt sich an, in der daraus resultierenden Expertengesellschaft das Regime der Profitgesellschaft total durchzuorganisieren. Lückenlos. Die geschlossene Gesellschaft.