Leider

/ Haimo L. Handl

Als Anfang November vielerorts die Gedenkaufmerksamkeit auf den österreichischen Expressionisten Georg Trakl gerichtet wurde in einem Streifblick auf sein schmales, aber ausdrucksstarkes Werk und den düsteren, dunklen Hintergrund seiner Drogenkarriere und inzestuösen Verbindung mit seiner Schwester, wurde, wieder einmal mehr, über den Zusammenhang von persönlichem Leid und Trauma und Werk nachgefragt und spekuliert.

Es scheint, in der Literatur überwiegen die tief Verletzten, die extrem Leidenden, wie ja die Weltanschauung, die Philosophie durchgängig von Leiden, dem Leidgedanken als Leitgedanken, geprägt ist, so dass jener, der nicht so sehr zu leiden scheint, kein Leidender ist, kein Leider, fast „leider’’ keiner ist, abnorm aus der Reihe tanzt: Leid ist die Basis und Grundausrichtung, weh dem, der nicht leidet. Und Ruhm denen, die sich daran erheben, überheben, die Leid auf sich nehmen. Schande jenen, die Leid über andere bringen.

Dass es in der Realität nicht so einfach war und ist, dass es nie so simpel sein kann, müsste jenen auffallen, die nicht nur leidbedingt düster durch ihre Verdunkelungsbrillen schauen, sondern heller, klarer Denken. Der Verdunkelung entspricht nun mal nicht der aufrechte Gang, der einer ins Licht ist.

Wenn also Leid so unabdingbar determinierend ist, wird da nicht auch jener, der Leid verursacht, zum Instrument eines vorgegebenen Plans, einer höheren Macht? Wem steht es überhaupt zu und frei, ohne Leid sein Dasein zu erfahren? Wer vermöchte KEIN Leid über andere zu bringen, da er oder sie selbst leidgebeutelt, schmerzensgedrückt dahinkreucht? Wann und weshalb adelt Leid jemanden als Opfer, wann stigmatisiert es einen als Täter?

War Kafka ein Leider? Sicher war es Paul Celan, er zelebrierte es sogar bis zu seinem Ende. War Ingeborg Bachmann eine Leiderin (Leidende)? So stark, dass man jetzt schon offener über ihr Gewalttrauma (da MUSS doch was gewesen sein…) spekuliert. Gab oder gibt es überhaupt irgend eine Künstlerin oder einen Künstler, der selbstbewusst darauf verzichtet, als Leidender aufzutreten, als Opfer?

Ja, ich nenne stellvertretend den britischen Schriftsteller, Künstler und Kunsttheoretiker John Berger, der vor kurzem seinen 88. Geburtstag beging, der immer noch positiv gestimmt, reif und milde, stark und überzeugt, sein Leben ganz „unzeitgemäß“ in den Bergen der Haute-Savoie lebt („fristed“ wäre völlig unpassend). Jemand könnte einwerfen, wie ich dazu käme zu behaupten, er lebe nicht leidend. Ich nehme es an, weil nichts aus seinem Werk, aus seinem öffentlich nachvollziehbaren Leben dem widerspricht. Aber, und das fällt doch auf, im gegenteiligen, üblichen Fall fragt fast niemand, weshalb man aus Lebensdaten und Werk so sicher, so stark auf Leiden und Traumata als Lebensdeterminanten schließen müsse. Hier scheinen alle Zeichen die gewünschte Sicht zu untermaueren. Symptomatisch, dass die entgegengesetzten Zeichen so leicht übersehen werden, untergehen in der wohlig-gepriesenen Untergangssicht der Leidenden, die sich vom Dunklen, Schmerzensreichen, Qualvollen eher angesprochen fühlen und gefangen nehmen lassen. Eine Art Leidenslust.