Die Diskrepanz

/ Haimo L. Handl

Die Raumsonde Rosetta, am 2. 3.2004 gestartet, erreichte nach über zehn Jahren Flugzeit ihr Ziel, um zum ersten Mal in der Raumfahrt ein Labor auf einem Kometen, über 500 Millionen Kilometer entfernt, abzusetzen. Trotz einiger Probleme und ungünstigem, weil schattigem Landeplatz, gelang die Mission. Ein historischer Schritt, ein bemerkenswerter Erfolg für die Wissenschaft und die europäische Raumfahrt. Der Erfolg ist nicht nur ein technischer und wissenschaftlicher, sondern auch ein gesellschaftlicher.

Denn die ESA wird von vielen europäischen Staaten betrieben. Dass es dieser Organisation gelang, so bündig zu kooperieren, wie wir es im politischen und wirtschaftlichen Bereich besorgt vermissen, ist überaus bedeutsam. Es zeigt sich, was alles möglich wäre, wenn nicht nur wissenschaftlich eng zusammengearbeitet würde, sondern auch gesellschaftlich.

Staaten, viele davon hoch korrupt, überbürokratisch, politisch schier verantwortungslos, nationalistisch oder gar chauvinistisch orientiert eigennützig operieren, die hier eine beispiellose Leistung erbringen, zeigen damit nur um so krasser auf, wie umfassend sie in den anderen Bereichen versagen. Aber die Diskrepanz tut sich noch viel tiefer auf im Geistigen: hier die Wissenschaft mit ihrem Zukunftsdenken, dort, im Alltag, das Versagen nach borniertem Denken Geängstigter, schier mittelalterlich religiös, atavistisch geprägt von Hass, Mord, Krieg und Umweltzerstörung.

Dass die Wissenschaft und Technik auch für das Zerstörungswerk genutzt wird, ist nicht der Wissenschaft zuzuschreiben, sondern den Nutzern, den Menschen. Es ginge auch anders. Und dieser Konjunktiv, unterstützt durch die wissenschaftlichen Erfolge, ist es, der uns zu denken geben sollte. Es gilt, die Gründe für die enorme Diskrepanz zwischen wissenschaftlichem Denken und Leisten einerseits, und dem althergebrachten Handeln, das nach wie vor von engstirnigem Eigennutz und Kriegen bestimmt ist, zu erkunden und Folgerungen daraus zu ziehen.

Keine Technik und keine Naturwissenschaft erklären sich aus sich selbst. Dazu bedarf es einer Philosophie. Im Verbund mit einer verstandenen Ethik müsste dem naturwissenschaftlichen Denken etwas gegenüber stehen, das die ausbaufähige Grundlage für das Gesellschaftsverständnis bildete. Dass dies nicht Religion sein kann, ganz gleich welche, liegt auf der Hand. Dass es nicht das Wertevakuum sein kann, in welchem wir gesellschaftlich orientierungslos uns politisch, wirtschaftlich und sozial mehr schlecht als recht bewegen, ebenso. Was müsste es sein?

Es müsste eine revitalisierte Aufklärung sein, eine scharfe Trennung von Religion und profanem Wissen, ein Abschied von falschen Gleichheitsvorstellungen und kuscherischem Nachgeben alter Ängste, wie sie vor allem in Religionen sich terroristisch ausdrücken. Es müsste ein Abschied von der Praxis der Lebenslügen sein, der Täuschungen, der Pseudotoleranz, die den Intoleranten solche Macht zuschreibt. Zugleich müsste das Vernichtungswerk des Hochkapitalismus, dessen Ziel nur Profit ist, wozu auch die Kriege dienen, überwunden werden.

Das alles ist bekannt. Das alles scheint ungleich schwieriger als die galaktischen Erkundungen, die wissenschaftlichen Detailerfolge. Wenn wir es aber nicht nur dabei belassen wollen, wenn wir uns mit dieser horrenden Diskrepanz nicht resigniert zufrieden geben, müssen politische Veränderungen gesetzt werden, muss die Aufklärung wieder aufgenommen und weitergeführt werden. Der Misserfolg und das Ende der Aufklärung dürfen nicht als unabdingbar hingenommen werden, es bedarf einer mutigen Erneuerung.