Allerseelen

/ Haimo L. Handl

Dass dem erhabenen Allerheiligen für das gemeine Volk Allerseelen folgt, worin das Verständnis von arme Seelen mitschwingt, hat für viele etwas Tröstliches. Es gibt nur wenige, auch in den aufgeklärten, säkularen Zeiten, die NICHT an die Unsterblichkeit glauben, die keinen Himmel und keine Hölle kennen, die sich mit dem irdischen Leben zufrieden geben.

An die Unsterblichkeit glauben, an ein Weiterleben „drüben“, belegt nicht nur die tiefe Angst vor dem Ende und Nichts, sondern auch die egoistische Anmaßung, „DAS dürfe nicht alles gewesen sein“, es, das Leben, müsse weitergehen. Es ist auch eine unstillbare Gier, ein Nicht-Genug-Kriegen. Was als Tugend erscheint, ist im Kern das Gegenteil. Doch, so erinnert sich der Nachdenkliche, auch Nietzsche, der Umwerter, fand: „Weh spricht: Vergeh! / Doch alle Lust will Ewigkeit -, / - will tiefe, tiefe Ewigkeit!’

Aber auch jemand, der nicht an ein Jenseits glaubt, an kein Weiterleben, wird sich erinnern und erinnern wollen und für seine Erinnerungen Objekte richten, als Erinnerungsstützen sozusagen. Er weiß, dass er seine Worte nicht an eine unsterbliche Seele, die irgendwo „west“, richtet, sondern an sich, an das Bild in ihm selbst, das er erinnernd pflegt, bzw. an die anderen, mit denen er es teilt. Der Tod ist eine Affäre immer nur für die Lebenden. Für den Sterbenden mag der Akt des Hinscheidens, des Verlassens, des Ablebens (für Tiere sagen wir das genauere Wort „Verenden“) schmerzlich sein, aber er ist endlich – und endgültig. Für Tote gilt nichts mehr. Für den vorher Lebenden galten, wenn er nicht vereinsamt war, auch Kontakte, Beziehungen. Je näher, dichter, stärker jemand mit der Person, die verstarb, „verbunden“ war, desto intensiver mag die Erinnerung sein, anfänglich auch die Trauer.

Wir sind in der Sprache etwas ungenau. Man sagt, wir erinnern uns der Toten. Das ist nicht ganz korrekt. Wir meinen jene, die verstorben sind. Die Erinnerung richtet sich jedoch an das Bild der Person, als sie lebte, die vorher, vor dem Tod, Objekt der Verbindung war, Mitglied der Gemeinschaft. Mit den Toten verbindet uns nichts. Wir könnten es nicht ertragen, dass sie verwesen, sich auflösen oder wir sie, weil wir das nicht hinnehmen wollen, verbrennen. Mit den Lebenden verbindet uns viel. Ebenso mit den Erinnerungsbildern, die sich aus den Erfahrungen aus dem Leben speisen. Aus dem Tod speist sich nichts. Der Tod ist für die Lebenden ein Zeichen, dass das Leben endlich ist, dass es diesen oder jene traf. Der Tod kann nicht erfahren werden. Alle Berichte von Todeserfahrungen sind Konstruktionen, Hilfserzählungen, Eitelkeiten vielleicht, Selbsterhöhungen.

Der Glaube an ein Weiterleben spendet für die allermeisten Trost. Und wer will den jemandem versagen? Sigmund Freud formulierte die bittere Wahrheit mit diesen Worten: „So sinkt mir der Mut, vor meinen Mitmenschen als Prophet aufzustehen, und ich beuge mich ihrem Vorwurf, daß ich ihnen keinen Trost zu bringen weiß, denn das verlangen sie im Grunde alle, die wildesten Revolutionäre nicht weniger leidenschaftlich als die bravsten Frommgläubigen.“