Saving the Union

/ Haimo L. Handl

In Großbritannien bezieht sich das Verständnis von „Union“ auf die eigene Nation, das Vereinigte Königreich. Jetzt werden die Schotten in einem Referendum abstimmen, ob sie ein unabhängiger Staat werden. Damit nehmen sie für sich eine Freiheit in Anspruch, deren Auswirkungen nicht nur den Rest der Union, England, Wales und Nordirland betrifft, sondern auch Europa, die andere Union. „Saving the Union“ wurde plötzlich doppeldeutig, wie nie zuvor.

Der Krieg in der Ukraine, die Obstruktions- und Interventionspolitik Russlands, müssen jeden, der nicht ignorant oder blind ist, an die (Vor)Geschichten des Ersten und Zweiten Weltkriegs erinnern. Doch die offiziösen Gedenken vermeiden jeden „unpassenden“ Gegenwartsbezug, und die Krise der Europäischen Union wird primär wirtschaftlich gesehen, als ob es nur ein Finanzproblem wäre. Doch die Kriegslage zeigt einen Krisengrund, der auch für Großbritannien und andere (Noch)Mitgliedsländer der Europäischen Union gilt: Es existieren keine Basiswerte, keine positiven Grundüberzeugungen, geschweige gemeinsame Visionen, weder für die zerbröselnde Nation des Königsreichs auf der Insel, noch für die Europäische Union.

Gerade im Fokus auf Finanzprobleme, das wirtschaftliche Wachstum, wird deutlich, wie eng und einseitig die EU konzipiert worden war, was sich heute bitter rächt. Die Union ist keine Vereinigung von Staaten, die einem einheitlichen europäischen Gebilde folgen, sondern eine Interessensgemeinschaft, die so lange halten wird, als deren wichtigste Teilnehmer davon profitieren, vor allem ökonomisch.

Deshalb ist die europäische Außenpolitik so schwach, weil so divergent. Deshalb ist die Koordination wichtiger wirtschaftlicher Maßnahmen so bestimmend, dass daneben die Bereiche des Sozialen oder der Bildung sträflich vernachlässigt werden. Deshalb grassiert ein kranker Nationalismus, brechen immer wieder Chauvinismen auf. Es gibt kein überzeugendes europäisches Leitbild, von einer „Identität“ ganz zu schweigen.

Das Krisenmanagement in London bestätigt dies auf dramatische Weise. Die Union hat dort keine überzeugenden Argumente, warum die Schotten in ihr verbleiben sollen, außer wirtschaftliche und pragmatische. „Better Together“ aus vornehmlich finanziellen Gründen, der Einfachheit halber, weil es sich kostengünstiger verwalten lässt? Der geistige Bankrott, den die Union unter Beweis stellt, welcher auch durch einen hohlen Folklorenationalismus und irrational inszenierter Monarchenfamilienpflege nicht überdeckt werden kann, speist die kurzsichtige, bornierte Politik des breiten Versagens: Wachsende Kluft zwischen wenigen Reichen und vielen Armen, Abbau sozialer Leistungen, Abbau des Bildungssystems, ungesund aufgeblasener Tertiärsektor neben einer schwächelnden Industrie, Integrationsprobleme und Europaskepsis bis hin zum Ruf nach dem Austritt: England for the Brits! Jetzt herrscht Angst, dass die Schotten Ernst machen und sich nach über 300 Jahren endlich von den Engländern lösen.

Das Problem für die Europäische Union liegt nicht nur in der Vorbildwirkung für andere Loslöser, wie z. B. die Katalanen oder Flamen. Das Problem liegt im Verhältnis Europas mit Russland. Denn was der eigentliche Grund für den Niedergang Großbritanniens ist, ist derselbe für Europa.

Die Haupteinwände für eine Sanktionspolitik wurden nicht politisch formuliert, sondern wirtschaftlich. Das zeigt nicht nur einen nationalen Geschäftssinn auf oder ein berechtigtes Profitinteresse, es indiziert ein gewisses huröses Werteverständnis. Solche Argumentierer würden Giftgas an die Nazis verkauft haben, wenn sie damit Profite hätten scheffeln können oder Arbeitsplätze sichern und den „Fortschritt“ voranbringen. Die extreme Sorge um den Verfall des Schweinefleischpreises oder anderer blockierter Produkte steht in einem befremdlichen Gegensatz zum ratlosen, zögerlichen Verhalten gegen eine Interventionspolitik, die zu recht einige östliche Mitgliedsstaaten der Union mehr als beunruhigt. Es ist, als ob 1938 sich wiederhole, als Appeasement das Zauberwort schien – und nicht zum Frieden, sondern zum Krieg führte. Die Union ist endgültig unglaubwürdig geworden. Sie beweist, dass es primär um Geschäfte geht und nationale Interessen.

Gerade weil die Lage so kompliziert ist, brauchte Europa eine Selbstsicherheit und Stärke, die es aber nicht hat. Denn der Krieg in der Ukraine ist nicht einseitig, out of the blue, von den Russen gezündet worden. Doch die Hintergründe der Hegemonialpolitik der USA, die Rolle der NATO als Instrument der USA, werden unter dem Druck der Ereignisse ausgeblendet, wenn nicht, wie üblich, tabuisiert. Diese Verlogenheit und Verlegenheit wäre zu verhindern, hätten die Europäer ein Werte- und Interessensverständnis, das über den eigenen Gartenzaun reicht, über die Tagesprobleme, über die Finanzen. Aber, ähnlich wie in Großbritannien, fehlt es daran, es bröckelt das Fundament. Saving the Union? DIESE Union?