Der kriminelle Nixon

/ Haimo L. Handl

Gegenwärtig wird in vielen Massenmedien des amerikanischen Präsidenten Richard M. Nixon (1913-1994) gedacht, der vor 40 Jahren, am 9. August 1974 als 37. Präsident der Vereinigten Staaten zurücktrat, um der schon eingeleiteten Amtsenthebung (Impeachment) im letzten Moment zuvorzukommen. Seine und seines Stabs kriminelle Machenschaften der sogenannten Watergate-Affäre hatten zum Sturz geführt. In vielen Porträts wird allerdings auf seine außenpolitische Bedeutung fokussiert, werden seine Erfolge in der Annäherung an das damalige Rot-China hervorgehoben bzw. jene der atomaren Rüstungsbegrenzung mit Moskau, als er mit dem damaligen Diktator Leonid Breschnew das SALT 1-Abkommen unterzeichnete, ein wichtiger Schritt der Deeskalation.

Das System funktionierte dennoch: einerseits wurden etliche Kriminelle aus Nixons Crew vor Gericht gestellt und verurteilt, sogar sein Vizepräsident wurde wegen vieler krimineller Vergehen, auch wegen Bestechung und Korruption, belangt und musste schon 1973 zurücktreten, was dazu führte, dass Nixon Gerald Ford ins Amt berief, der nach Nixons Abgang zum Präsidenten aufstieg, und der Nixon dann „begnadigte“, ihn vor jeder weiteren Verfolgung bzw. Bestrafung schützte.

Der Fokus auf „Watergate“ dient aber oft der Ablenkung vom Kern des Machtmissbrauchs dieses Präsidenten und seiner zynischen Mitarbeiter, seiner Verachtung demokratischer Einrichtungen und der Presse, die in der Tradition des First Amendments selbstsicherer und investigativer auftrat, als die Massenmedien in anderen Staaten. Es waren die unermüdlichen Aufdeckungen einiger amerikanischer Medien, ihre Whistleblower-Funktion, die den Stein ins Rollen brachten, es war die Beachtung des Geists des viel beschworenen First Amendments, der damals noch wirkte, was Nixon und seinen Boys zum Verhängnis wurde, und den Amerikanern zumindest vordergründig versicherte, sie seien eine wahre Demokratie.

Auch ich hatte mich damals, als ich 1973 für ein halbes Jahr in den Staaten weilte, von diesen Vorgängen, der Verfassungskrise durch „Watergate“, und wie sie, vor allem durch das United States Senate Watergate Committee unter dem Vorsitz Senators Sam Ervin sowie dem unbestechlichen, unerbitterlichen Richter John Sirica und dem Special Prosecutors Archibald Cox, den Nixon feuerte, als er die Tonbandaufzeichnungen verlangte und Nixons Weigerung sie herauszugeben nicht akzeptierte, was den Konflikt aufheizte, von der Qualität des Rechtsstaates überzeugt und beeindrucken lassen.

Dass Bestechungen, Einbrüche, Datendiebstahl sowie eine Reihe von kriminellen Aktivitäten als „Amtsmissbrauch“ geahndet wurden, war irgendwie befriedigend, belegte aber, dass die eigentliche Politik, die Lügen zur Legitimation von Kriegen, die enorm viele Opfer kosteten, unzählige Existenzen vernichteten, als normale „Realpolitik“ nicht rechtlich bewertet wurde, zu keinen Konsequenzen führte. Im Gegenteil, dieselbe Presse, die im Watergate-Skandal eine herausragende kritische Leistung erbrachte, ignorierte wichtige politische Manöver von Nixon und seinem Umfeld, wie z. B. die Obstruktionen der Friedensgespräche der USA mit Nordvietnam, was zu einer Verlängerung und Verschärfung des Krieges führte, auch mit den heftigsten, intensivsten Bombardements, umfangreicher als im 2. Weltkrieg, von Nordvietnam und Kambodscha, der die Niederlage der Amerikaner dennoch nicht zu verhindern vermochte.

Wertet man die Administration Nixon und die Politik seit Mitte der Siebzigerjahre des vorigen Jahrhunderts, zeigt der Vergleich mit der jüngsten Politik der Vereinigten Staaten unter Präsident Barack Obama, wie tief das Land nicht nur moralisch, sondern vor allem rechtlich gesunken ist. Die USA sind kein funktionierender Rechtsstaat mehr, keine Demokratie. Gülte das First Amendment, wenn schon nicht andere Gesetze, müssten Präsident Obama und wichtige Personen seiner Regierung, seines Stabes sowie vieler amerikanischer Einrichtungen, insbesondere der geheimdienstlichen, vor Gericht gestellt worden sein und heute sich hinter Schloss und Riegel befinden.

Man stelle sich vor: Mitte der Siebzigerjahre reichten vergleichsweise kleine Datendiebstähle und Missachtungen der Privatsphäre (Überwachungen, Datensammlungen etc.) aus, um einen Präsidenten aus dem Amt zu entfernen und etliche Kriminelle zu verurteilen. Heute, nachdem durch einen Whistleblower aufgedeckt worden war, wie systematisch in bislang unvorstellbarem Ausmaß die eigene Verfassung missachtet worden ist hinsichtlich Überwachung, Kontrolle und Datenmanipulation, gibt es keine ernsthaften Überlegungen, dagegen rechtlich vorzugehen.

Das Rechtsempfinden hat sich abgestumpft, das perverse Verständnis der Vernünftigkeit dieser Art von Realpolitik triumphiert. Das kriminelle Vorgehen der Amerikaner scheint gedeckt und straft jeden Lügen, der behauptet, die USA seien eine rechtsstaatliche Demokratie.

Dass dies so ist, dass es soweit hat kommen können, ist bedeutsamer, als der „Fall Nixon“, als die Watergate-Affäre. Dass Barack Obama und das System, wofür er steht, weitermachen kann, sogar ausspionierte Verbündete kuschen und Bündnistreue beweisen, legt ein politisches Dilemma, ein Versagen auf ganzer Linie dar, das weit über die damalige Verfassungskrise unter Nixon hinausgeht. Heute ist die Situation viel, viel schlimmer. Obamas Regierung ist jene, die am intensivsten und heftigsten Whistleblower verfolgt und jagt, die freie Presse ins Visier nimmt und das First Amendment aushebelt, wo es ihr nur gelingt. Den jüngsten Beweis dazu liefern das 2008 gestartete Gerichtsverfahren gegen James Risen, das immer noch läuft, neben den Verfolgungen von Wikileaksgründer Julian Assange und dem NSA-Aufdecker Edward Snowden, um nur ein paar Prominente zu nennen.

Der Geist Nixons, die tiefe Verachtung demokratischer Einrichtungen, ist der eigentliche Hintergrund der sich vordergründig demokratisch gebenden USA. Das ist das wirkliche Drama.