Die europäische Täuschung

/ Haimo L. Handl

Britanniens einsame Opposition gegen die Wahl des Kommissionspräsidenten wird nicht nur Großbritanniens belasten, sondern die Union. Einmal mehr zeigt sich das brüchige Gebilde ohne wirklich demokratische Verfassung, wie man sie von einer politischen Union erwartete, aber doch mit Zugeständnissen, wie sie für eine losere Union, eigentlich einer Wirtschaftsgemeinschaft, zu einschneidend sind.

Der langsame Wandel zu einer politischen Union war durch die Hintertür erfolgt. Er hat nie volle Unterstützung erfahren. Die Europäer machen sich was vor. Cameron, so nationalistisch seine Beweggründe auch sind, hat nicht ganz unrecht mit seiner Warnung: Ein schwarzer Tag für Europa, weil das Parlament gewinnt, die Kommission verliert. Er bringt es auf den Punkt.

Hätten wir schon ein europäisches Parlament, das eines wäre mit allen Rechten, die wir von einem demokratischen Körper erwarten, müsste die Position des Europäischen Rates umgestaltet werden, und auch die Kommission könnte nicht bleiben, wie sie ist.

Hätten wir solches Parlament, sollte man sich ausmalen, was geschehen wäre, zum Beispiel die letzten sechs Krisenjahre. Vermutlich hätten die Beschlüsse der Parlamentarier nicht nur zu diplomatischen Krisen geführt, sondern zu veritablen, die schließlich im Zusammenbruch der Union resultierten oder in solch extremen sozialen Unruhen, die eine Vorstufe einer Art europäischen Bürgerkriegs mündeten, den zu vermeiden ja einer der Grundgedanken der Bildung der Union war.

Denn es ist nicht anzunehmen, dass die extreme Vergesellschaftung der Krisenverluste, hier vor allem in den Zahlungsverpflichtungen der Nettozahler an die anderen, ohne Proteste durchführbar gewesen wäre. Obwohl die deutsche Bundesregierung geübt in ihren Kotaus ist, würde das, wenn sie noch stärker zur Melkkuh hätte werden müssen, trotz einnebelnder Dauerpropaganda und amerikanischen Drucks, zu Spannungen geführt haben, die jene rechtspopulistischen oder faschistoiden Kräfte gestärkt hätten, vor denen fast alle Angst haben. Unser Nachbar Ungarn geht diesen Weg bereits.

Man erinnere sich des German Bashings. Die wären in so einem Parlament nicht verbal geblieben. Die hätten zu Handlungen geführt, die ein ernstes Problem dargestellt hätten. Das Ergebnis wäre höchstwahrscheinlich katastrophal gewesen.

Wir können leicht den Konjunktiv ändern und ins Prognostizieren wechseln bzw. den Präsens offen denken. Es gibt keine europäische Einheit. Die nationalen Interessen überwiegen. Deutschland ist nicht wirklich souverän. Die „deutsche Frage“ ist nicht „beantwortet“, das heißt, gelöst. Der amerikanische Einfluss auf Europa ist fatal. Die europäische Außenpolitik ist uneinheitlich und schwach.

Der Erste Weltkrieg wurde in einer Art befriedet, der sofort, nach nur wenigen Jahren, in den Zweiten führte. Danach wurde in einer gelernteren Version die neue europäische Befriedung durchgezogen. Die Union in ihren verschiedenen Entwicklungsformen (Montanunion, EWG, EU) dokumentiert das. Aber Europa hat sich nicht emanzipiert, vor allem nicht vom großen Kriegsgewinner USA. Europa hat politisch nicht wirklich zusammengefunden; ein dünnes Häutchen einer Chimäre überspannt das ganze Unterfangen. Darunter brodelt es. Es erstaunt schon, dass ein derart fragiles Gebilde überhaupt noch existiert.

Wie hätten sich die divergenten nationalen Interessen in einem Parlament, ausgestattet mit allen parlamentarischen Rechten, ausgedrückt? Man denke an die Stimmen aus Griechenland, Italien, Spanien, um sich das auszumalen. Wohin hätten die Haltung der jungen Mitgliedsstaaten aus dem Osten geführt, wenn sie ungefiltert im Parlament zur Abstimmung gestanden wären? Wäre der Einfluss der Briten, der ausgewiesenen Insulaner und NICHT-Europäer, noch stärker geworden?

Hätte das Parlament noch stärker einer Militarisierung Europa zugestimmt? Wenn nicht, wie hätte sich das Verhältnis mit den Amerikanern und der NATO entwickelt? Würde das Parlament die Flüchtlingsfrage anders behandelt haben? Wenn ja, wie würden die einzelnen Mitgliedsstaaten mit den höheren Flüchtlingszahlen umgehen? Wie würden die Nationalwirtschaften das verkraften, um welchen politischen Preis?

Fragen über Fragen. Aber keine überzeugenden Antworten.