Kriegserinnerungen

/ Haimo L. Handl

Der Begriff „Erinnerung“ ist komplex. Einerseits meint er das Innewerden in einem Akt von Gedächtnisaktivierung, im eigentlich Sinne erinnern als wachrufen, was gespeichert worden war, und zwar nicht nur (rationale) Wissensgehalte, sondern auch Emotionen, Gefühlslagen, Stimmungen (die auf den Wissensgehalt einwirken). Im deutschen Wort schwingt die früher Herkunft noch mit: ahd. innaro, der Innere bzw. innaron, aus dem mhd. (er)innern wurde. Aber schon zu Luthers Zeiten erweiterte sich der Bedeutungsgehalt über das lat. monere auf ermahnen, warnen, avisieren (anzeigen, hinweisen).

Heute versteht man unter erinnern ganz selbstverständlich beide Bedeutungen, wobei der Appell stärker als früher gilt „vergiss nicht!“, wenn „erinnern’“ „behalten“ meint. Die Erinnerung als kollektive Übung, als soziales Handeln im Gedenken, ähnelt dem Opfern einerseits oder dem jubilierenden Beweihräuchern (das ein Opfern aus anderen Gründen und Quellen nicht ausschließt).

Besonders gesellschaftlich organisiertes Erinnern, die instrumentalisierte Gedächtniskultur als Erinnerungstraining oder gar Drill, zeigen die widersprüchliche Funktion von Erinnerung auf. Im Übrigen wird von vielen der Erinnerungsprimat extrem gesehen, als Wert an sich, was aber Unfug ist. Dass der Mensch vergisst bzw. überhaupt vergessen kann, ist eine Kondition für seine Gesundheit. Es kommt nur auf das Maß an, was wann weshalb vergessen wurde. Viele Mahnappelle „Erinnere dich!“ sind (wie) Strafen. Viele, die für mehr Verständnis von Traumatisierten eintreten, wollen oft, aus ideologischen Gründen, so viele wie möglich mit Leidwiederholungen durch Zwangserinnern, Retraumatisierungen, nicht nur zum Erinnern bringen, sondern zum Schuldeingeständnis, zum Leid, obwohl andererseits betont wird, es gebe keine Kollektivschuld usw. usf.

Wenn in Moskau heuer glorifizierend, durstig nach alter Größe, verwirrt und benebelt des 2. Weltkriegs gedacht wird, vermeidet man näheres und tieferes Gedenken des 1. Weltkriegs, weil dem in Russland ja der Bürgerkrieg folgte, weil damals das Versagen des Zarenrusslands die Bedingung der Herrschaft der Bolschewiki war, die blutig, kriegerisch ihr Regime installierten. Die Deutschen wurden gründlich umerzogen und haben gelernt, sich korrekt zu erinnern. Im Großen und Ganzen. Aber es gibt Abweichler und Häretiker. Doch die gibt es auch auf Seiten der ehemaligen Sieger. Welcher? Des 1. oder des 2. Weltkriegs oder früherer oder späterer? Erinnerungsbilder oder -gehalte müssen sich, nach politischen propagandistischen Vorgaben, oft ändern und neuen Bewertungsschemata einpassen. Erinnerung ist ein Konstrukt.

Wessen sich die Armenier erinnern, darf in der Türkei nicht öffentlich erinnert werden. Die Erinnerung der Palästinenser gilt nicht oder kaum gegen die der Israelis. In China wird heute die Erinnerung an den siegreichen Langen Marsch gepflegt, nicht aber an die Hungerkatastrophe oder die Kulturrevolution. Umgekehrt erinnert man sich wieder positiv des alten Konfuzius, der unter dem großen Führer Mao geächtet war. Japan, das sich ebenfalls einem Umerziehungsprogramm unterziehen musste, zeigt heute besorgniserregende Identitätsprobleme, weil gewisse Erinnerungsbilder kollidieren, weil einiges nicht getilgt und ausradiert hatte werden können, das nun hervorbricht, mit dem nun neu umgegangen werden muss.

Wer ansieht, wie in den Vereinigten Staaten das organisierte Erinnern, z. B. an den Vietnamkrieg, sich wandelte, weiß um die Politisierbarkeit von Geschichte und Erinnerungen. Und dieser Befund lässt sich mit jedem neuen tiefgreifenden Ereignis erweitern und fortsetzen, seien es Triumphe wie die Mondlandung, seien es Traumata wie Kriegsverluste oder Naturkatastrophen.

Erinnerungspflege kann Anlass sein für Lernen, für Gemeinsamkeit. Meist ist es aber ein Aufrufen alter Szenarien und damit verbundener Haltungen, die angesichts der realen Veränderungen zu Frustrationen führen. Dass der ehemalige Hauptfeind Deutschland so stark geworden ist, fällt insbesondere durch die sorgfältig inszenierten Erinnerungen auf: Damals, nach 1914-1918, die Revanche der Sieger, damals, nach 1939-1945, die Revanche der Sieger, und heute? Die Verlierer sind stark geworden. Für viele ist es ein Problem, dass die Verlierer überhaupt überlebt haben. Man muss sich halt arrangieren. Das Arrangement ist aber spezifisch: für die Verlierer, für die Gewinner. Und wenn dann die früheren Verhältnisse sich geändert haben, wird die Erinnerung für viele zum Stachel, der schmerzt.

Sollte es wirklich Frieden geben, der mehr ist als die Abwesenheit von Krieg, müsste neben den Erinnerungen auch das neue Gemeinsame verinnerlicht werden. Davon sind wir weit entfernt.