Boko Harams Gottesstaat

/ Haimo L. Handl

Die islamische Sekte im Norden Nigerias agiert sehr erfolgreich mit ihrem Terror und Töten als Ausdruck islamischen Strebens nach einem Gottesstaat. Der Hinweis, das habe nichts mit dem Islam zu tun, hilft jenen, die sich diesem Morden, Vergewaltigen, Versklaven oder den Brandschatzungen nicht entziehen können, wenig. Für sie muss es nicht nur zynisch klingen, für sie IST es zynisch. Denn die Eiferer berufen sich auf ihre islamische Gottesstaatsvorstellung, und nicht auf eine abartige westliche Pseudophilosophie, wie sie die Faschisten vorgaben oder eine Wissenschaft, auf die sich die Marxisten beriefen.

Trotzdem ist es nicht simpel DER Islam oder DIE moslemische Kultur. Es ist nicht einmal das Religiöse als Fundament, das zwingend dazu führte. Gerade in Europa kennen wir die Auswüchse vermeintlicher Aufklärung, die zum blutigen Terror kippt, der allen perversen Untaten Religiöser, und die Geschichte ist reich daran, in nichts nachsteht, außer darin, dass er meist nicht von langer Dauer war – man überdenke nur die Französische Revolution.

In beiden „Lagern“, den vermeintlich aufgeklärten der Rationalisten, als auch den Religiösen gab und gibt es bzw. kann es extreme Bewegungen geben, die im unduldsamen Terror ihre Zielvorstellung mit allen Mitteln, mit allen, durchzusetzen versuchen. Und oft verschieden lang verschieden erfolgreich „agieren“, wüten, vernichten. Viva la muerte! Dass da sogar rational basierte Ideologien zu Formen fanden, die sich von denen rückständiger, primitiver Religiöser nicht mehr unterschieden, quasi als Religionsersatz in ihrem Erlösungswahn einen „Idealismus“ praktizierten (Tausendjähriges Reich, Der Neue Mensch), der in einem völlig inhumanen Terror und Vernichtungswerk seinen Ausdruck fand, liegt nicht so weit zurück und sollte zu denken geben.

Hinsichtlich des Naziregimes und seines Judenvernichtungsprogramms scheinen die Urteile klar und bündig. Aber die Fokussierung auf dieses Schreckensregime engte den Blick ein. Das „Problem“ ließ und lässt sich nicht auf „die Deutschen“ reduzieren. Man benennt einen Täter, ein Tätervolk, eine Bewegung, eine Ideologie. Erklärt bzw. versteht man damit Fundamente, Wertstrukturen, die dazu führten? Nein, nicht wirklich. Ein beispielhafter Versuch einer Deutung der „Dialektik der Aufklärung“ versuchten Max Horkheimer und Theodor W. Adorno in ihrer kleinen, aber epochalen Schrift, der man später vorwarf, die Problematik zu einfach gesehen zu haben bzw. zu weit und dabei zugleich zu eng zurückgegriffen abgehandelt zu haben durch Rekurs auf die abendländische, griechische Geschichte (Odyssee) und die Ableitung nachfolgender Entwicklungen. Zu einer Zeit, als der Terror „blühte“, nannten sie nicht die realen Kräfte und Täter, sondern bemühten Mythen, transponierten ihr Reflektieren auf eine Metaebene, als ob sie befürchteten, sonst im Tagesgeschäft der (damaligen) Realitäten sich zu verfangen. Trotzdem taugt ihre Arbeit als Kritik und Denkmittel, obwohl (oder weil) sie zwar weniger Antworten, aber wichtige Fragen produziert.

Einige dieser Fragen sind vergessen oder übersehen worden, harren immer noch der Antworten oder Antwortversuchen. Der Vorsatz „Nie wieder Krieg“, umfassend verstanden, nie wieder solche Vernichtungen, wie erlebt, galt nicht lange bzw. nur „theoretisch“. Das Wiedererstarken von Religionen und Kirchen tat das Übrige, um ein Verfolgungsklima zu erzeugen. Der Wille, Ungläubige zu verfolgen und zu vernichten, war nicht nur auf Gläubige beschränkt, er äußerte sich eindrücklich in vielen politischen Programmen, vor allem im asiatischen Raum. Die jüngste Geschichte Chinas liefert da immense horrible Belege. Die Untaten des Pol Pot-Regimes lassen sich nicht als verständliche Reaktion gegen den westlichen Einfluss abtun. Das weiße Apartheid-Regime in Südafrika, erst in den Neunzigerjahren zu Ende gekommen, basierte auf europäischen Werten britischen Arierdenkens. (Man könnte einwenden, es gehe auf calvinistisches Denken zurück, nicht auf britisches. Aber es war eine britische Deutung, wie sie überhaupt die Grundsicht für das Kolonialweltreich dieses europäischen Mutterlandes der Demokratie auszeichnete.) Und das neuerliche Erwachen des politischen Islams mit seiner Praktizierung religiöser Intoleranz bis zum Extrem kann zwar als Antwort an den Westen und seine verfluchten, verabscheuten Werte gedeutet werden, erklärt aber nicht, weshalb solche Ideologien so erfolgreich werden konnten und im Westen von weiten Kreisen verständnisvoll hingenommen und gefördert werden.

Was die Roten Khmer zu installieren versuchten, war zwar kein Gottesstaat, aber ein Konstrukt einer fundamentalen Gesellschaft. Die Hauptfeinde waren Intellektuelle, der Feind war Rationalität. Zumindest darin ähneln, wenn auch aus anderem Denken herkommend, die Gottesstaat-Ingenieure. Rationalität, Bildung ist Gift, ist Verderben. Dem wird mit Verderben, mit Krieg und Terror begegnet, koste es, was es wolle.

Bedenken wir nicht die horrenden Anmaßungen dieser Ideologien, werden wir nur bei der Symptombehandlung verharren (die oft selbst nur gewalttätig „Macht“ ausspielt) oder finden zu wenig überzeugenden Etikettierungen bzw. oberflächlichen Benennungen. Die bannen dann zwar als Namen und Begriffe das Phänomen, aber so untauglich, so leer, dass daraus keine vernünftige Re-Aktion erfolgen kann. Denn die adäquate Reaktion müsste, im Hinblick auf die Dialektik der Aufklärung, die dunklen Kehrseiten bedenken, die auch unsere Systeme betreffen, müsste sie umfassend ins Blick- und Denkfeld nehmen, was aber unterlassen wird.