Historische Relativität

/ Haimo L. Handl

Wir sind im Viertel des Jahres, des Gedenkjahres des Ersten Weltkriegs, der vor 100 Jahren begann, und dürfen viele neue und wieder aufgelegte alte Sichten, Interpretationen und Analysen lesen. Es zeigt sich, dass die etwas längere historische Distanz zwar manche Blicke ermöglicht, die im kürzeren Abstand nicht möglich waren, nicht möglich sein durften, generell aber immer noch verschiedenste Beurteilungen kursieren, wer (welche Nation, Regierung) wofür als verantwortlich bezeichnet wird, wer agierend, wer reagierend gewesen war oder sein soll usw.

Trotz verbesserter Informationslage zeigt sich, dass „Fakten“ nicht für sich sprechen, dass für ihre Bewertung es nicht nur zusätzlicher Kenntnisse bedarf, sondern, dass es auch wesentlich auf den eigenen Standpunkt, von dem aus überhaupt wahrgenommen und selektiert wird, ankommt, weil dieser das Denkgebäude, in welchem sinnhaft interpretiert, also bewertet wird, bestimmt.

Daraus könnte man Schlüsse ziehen und lernen. Zum Beispiel für die heutige politische Lage, wie sie von den verschiedenen Vertretern verschiedener Machtbereiche geschaffen, konstruiert, instrumentalisiert wird, und, ganz wichtig, in welcher Weise die Bewertungen erfolgen. Wer welche Deutungshoheit beansprucht, mit welchen Argumenten, welche Logik auf welchem Denkhintergrund herrscht, auf welche Art kontroverse Haltungen bedacht und diskutiert werden, falls sie überhaupt ins Blickfeld gelangen.

Der Trend zu extremen Vereinfachungen ist ungebrochen. Erinnern wir uns der Dekade der Jugoslawienkriege, der sogenannten Balkankrise von 1991-2001, und dem Zerfall dieses Vielvölkerstaates. Vergleichen wir die Argumentation für die territoriale Integrität des Staates Jugoslawien, die vehement, aber letztlich erfolglos, gegen die schnelle westliche Bereitschaft der Anerkennung der „Selbstbestimmung“ und Sezession jugoslawischer Teilstaaten versucht wurde, mit der heutigen Argumentation Russlands zur Annexion der Krim und der russischen Unterstützung bzw. Vorbereitung der Abspaltung von Teilen der Ukraine, nämlich des ukrainischen Ostens mit dominanten Anteil russischer Bevölkerung. Erstaunlich, in welch kurzer Zeit eine völlig entgegengesetzte Argumentationslinie als richtige und korrekte bemüht wird.

Durch die Reduktion auf zwei Machtblöcke, die USA und die EU einerseits, und Russland andererseits, wir ein Ausblenden X anderer Interessen bzw. Faktoren praktisch erzwungen. Parteinahmen erfolgen nach vorgegebenen Hauptkriterien, die eine differenzierte Beurteilung bzw. Parteinahme massenmedial nicht mehr gestatten.

Dies zeigt unter anderem auf, wie schwach und fragil der politische Diskurs, soweit er überhaupt ernsthaft unternommen wird, ist, und wie stark immer noch alte Machtstrukturen und -konzepte vorherrschen, in deren Spannungsfeldern eine „faire“ politische Auseinandersetzung bzw. Beurteilung unmöglich werden.

Die nationalistische Karte, auf die vordergründig gesetzt wird, ist eine wackelige. Was „dort“ befürwortet wird, könnte peinlich werden, wenn es „hier“ auflebt. Das gilt nicht nur für Russland, das z. B. die tschetschenische Selbstbestimmung brutal niederwalzte und wachsam ähnliche Regungen im Riesenreich registriert, um sofort den tödlichen Sezessionskeim zu ersticken. Das gilt für einige europäische Staaten, die einen fatalen staatlichen Auflösungsprozess feststellen und eigentlich nicht wissen, wie sie ihm erfolgreich begegnen. Hier brennen Lunten.

Wieviel wissen wir heute von den direkten und indirekten Kriegsgründen vor hundert Jahren? Wieviel von denen der Jugoslawienkriege? Und wieviel z. B. jetzt von der Ukraine? Der Satz, dass wir aus der Geschichte lernen, hat sich, einmal mehr, als bloße Mär erwiesen.