Verbotskultur

/ Haimo L. Handl

Das gegenwärtig herrschende Klima der Intoleranz, Hysterie, Überwachung und Ahndung hat sich langsam entwickelt. Eine Werteumkehr wurde von vielen Gutmeinenden, Korrekten durchgesetzt. Heute besorgt „die Öffentlichkeit“, nicht zuletzt mittels ihrer Medien (social web), jenes outcasting, gegen das früher Kritiker anrannten.

Es ist nicht so lange her, als weite Kreise gegen Berufsverbote aufstanden, sich weigerten hinzunehmen, dass jemand z. B. nicht Lehrer oder Beamter werden oder bleiben durfte, weil er nach gewissen Kriterien für den Staat ein Risiko geworden war.

Damals wurde auch eingefordert, dass Verdachtsmomente alleine nicht genügen dürfen für „Maßnahmen“ gegen eine Person. Für Überwachungen brauchte es richterliche Bestätigungen, und es galten noch strenge Regeln zugunsten des Schutzes der Privatsphäre.

Mit dem Schwinden des Privaten ging der Kern der Bürgerrechte verloren. Die Beweislast liegt in vielen Fällen beim vermeintlichen Täter, Abweichenden, Inkorrekten. Es genügen in vielen Fällen Verdachtsmomente, „Zeugen“-Aussagen oder Indizien, dass jemand verfolgt und öffentlich fertiggemacht werden kann. In diesem Klima hat sich die „Rechtssprechung“ angepasst an die rigideren Regeln der neuen Korrektheit, der neuen Moralvorstellungen, der hysterischen Gefühlskultur.

Meinungsfreiheit gibt es nicht mehr. Wer das Gegenteil behauptet, nimmt zynisch in Kauf, dass er die formale Freiheit als solche sieht. Das konnte man aber auch in der DDR oder der Sowjetunion sehen: Jeder hat(te) die Freiheit zu sagen, was ihm beliebte, er musste nur mit entsprechenden Konsequenzen rechnen. Und heute gewärtigen einen bei uns Konsequenzen, die vor dreißig, vierzig Jahren als inhuman vor allem in Diktaturen oder totalitären Staaten kritisiert wurden.

Der wesentliche Unterschied ist: Das Verlangen nach Verboten, nach Brandmarkung, nach Verfolgung, nach Bestrafung, geht direkt von Teilen der Bevölkerung aus, ein Trend zur Lynchjustiz, zumindest medial über die Neuen Medien, hat sich festgesetzt. Was als Kennzeichen absolutistischer Polizeistaathaltung früher kritisiert wurde, ist heute die demokratisierte Form der Verfolgung. „Ja dürfen’s denn des?“ ist nicht eine Reminiszenz an unselige Zeiten, als das Herrscherhaus, der Kaiser und sein Hof bestimmten, was man darf, und sich verzweifelt gegen Emanzipationsbewegungen wehrten, sondern die harmlos klingende Haltung der Verwunderung, dass es immer noch Abweichungen und Abweichende gibt, die öffentlich Dissens äußern, was nicht geduldet werden darf, wenn dieser sich gegen Fortschritt, Freiheit, Würde, Sicherheit oder sonst ein Gut richtet, vermeintlich richtet.

Das trifft Forscher, die abweichende Positionen vertreten (Gentechnologie, Klimaforschung), das trifft Pädagogen, Historiker, Journalisten, aber vor allem Politiker, die sich eines Vergehens, einer Übertretung oder einer Straftat schuldig gemacht haben. Aber heute reicht meist schon der Verdacht, dass jemand deshalb zu Fall kommt, den Job verliert, seine Würde, gar seinen Beruf. Fatalerweise wuchs das Register der Straftaten, änderte sich das Rechtsempfinden. In vielen Fällen wird gesellschaftlich, öffentlich ge- und verurteilt, lange bevor ein reguläres Rechtsverfahren Recht spricht, falls es in dem aufgeheizten Klima überhaupt noch Recht sprechen kann, wie man es früher verstand.

Die Affäre Edathy in Deutschland belegt dies erschreckend, die Proteste gegen Valery Gergiev beim jüngsten Konzert in New York zeigen auf, dass politisches Verhalten zu einer gesellschaftlichen Ablehnung führt, die ihm bald seinen Beruf im „freien Westen“ verunmöglichen wird (noch bleibt es bei Rufen wie „Don’t support Putin“, „Gergiev out of New York“ oder „Shame on Carnegie“, aber wie lange noch?). Und dass Grüne und Konservative kürzlich im Europaparlament in einem Entschließungsantrag zur Krim-Krise ein Redeverbot für den früheren Kanzler Gerhard Schröder fordern, passt voll in die Zeit der politischen Korrektheit.

Wir kritisieren die Verfolgungshaltung religiöser islamischer Fanatiker gegen Abweichende oder Ungläubige. Aber auch im Westen regt sich Kritik an dem früher gepriesenen syrischen Dichter Adonis, nicht weil er die Religion kritisiert („Religion ist antidemokratisch und antirevolutionär“), sondern weil er die westliche Haltung gegen Syrien nicht einnimmt. Jüngstes Beispiel bietet der Rücktritt von Brendan Eich als CEO von Mozilla aufgrund der geschäftsschädigenden Kritik an ihm. Was hat er verbrochen? War er korrupt? Hat er eine Straftat begangen? Nein. Er hat eine abweichende Meinung geäußert, er ist zum Gesinnungstäter mutiert. Seine private Haltung ist zum Politikum geworden. Er hatte vor einiger Zeit sich gegen die Homoehe ausgesprochen. Das ist heute im Westen ein Sakrileg. Er zog die Konsequenzen, bevor die Firma ihn schmiss, um weiteren Schaden für die Corporation zu vermeiden. Er vollzog die Strafe an sich, ohne Verfahren, ohne Verteidigung. Die Affäre gemahnt an die unheimliche Selbstkritik von „Delinquenten“ in Zeiten der Schauprozesse in der UdSSR und China. Nur, dass heute keine staatliche Institution, keine Regierung mit ihrem Volksgerichtshof dahinter steht, sondern eine Öffentlichkeit, die Druck macht und Vollzug fordert und ihn auch durchsetzt. Das ist die neue Freiheit.

Die Liste ließe sich unendlich lang fortsetzen. „Unterm Denkverbot sanktioniert Denken, was bloß ist.“ (Adorno) Vor bald 20 Jahren, 1995, publizierte die NEUE RUNDSCHAU ihr Themenheft „Neue Denkverbote. Vom Terror der Gutwilligen“. Verfolgt man den Diskurs, die Debatten seither, lässt sich der Wertewandel, das Anwachsen der Intoleranz, die Unwilligkeit frei zu denken im aufgeklärten Sinn, parallel zum Niedergang der letzten Reste der Aufklärung, feststellen. Zu wenige bedauern diesen Wandel, zu viele richten sich ein in dieser Zeit rigider Ängstlichkeit und ihres Hasses auf den Anderen, das Andere. Wie hatte Sartre geschrieben? „Die Hölle, das sind die anderen.“ Seine Kritik könnte neu bedacht werden.