Gerechtigkeit

/ Haimo L. Handl

Der Schlüsselbegriff ist beliebt wie nie zuvor und wird verwendet, als ob er eindeutig und klar wäre, obwohl das Gegenteil der Fall ist. Wer ist schon offen gegen die Gerechtigkeit? Wer untermauert nicht politische, soziale und wirtschaftliche Anliegen mit der Forderung nach Gerechtigkeit? Vor allem im Justizwesen soll es gerecht zugehen, man fordert gerechte Urteile. Am populärsten ist gegenwärtig aber die Forderung nach einem Mindestlohn. Wie gerecht wäre der? Wie einheitlich ist eigentlich das Verständnis von Gerechtigkeit in unserer Gesellschaft?

Ist die Devise ‘Jedem das Seine’ gerecht? Wie wird das definiert? Nach welchen Kriterien soll bewertet werden? Der Mindestlohn zumindest richtet sich nicht nach dieser Auffassung, sondern geht, als gesetztes Limit, von einem allgemeinen Minimum aus, das allen zustehe. Entlohnungen dürfen erst über diesem Standard unterschiedlich sein. Das lässt sich argumentieren, aber ‘Gerechtigkeit’ eignet sich schwerlich als Begründung dazu. Wenn für ein bedingungsloses Grundeinkommen argumentiert wird, wiegen soziale Aspekte stärker als wirtschaftliche oder gar philosophische nach einem Gerechtigkeitsmodell.

Recht soll in unserer Gesellschaft gleich gelten, das heißt, ohne Ansehen der Person. Das war in der Entwicklung des Rechtsverständnisses ein Fortschritt; die Justitia wird als Rechtsprechende mit einer Augenbinde dargestellt, die deshalb unparteiisch, nur nach dem Recht, dem Gesetz, urteilt. Weil aber ‘das Recht’ nie die jeweiligen Umstände eines spezifischen Rechtsfalles berücksichtigt, sondern nur den Rahmen bildet, innerhalb dessen Recht gesprochen werden kann, werden die Hintergründe beleuchtet, werden ‘besondere Faktoren’ gewichtet, um möglichst gerecht zu einem Urteil zu kommen. Da spielt plötzlich die Herkunft eine Rolle, der Sozialstand, da werden persönliche Verhältnisse gewürdigt usw. Justitia darf gerade nicht blind sein, weil sie sonst ungerecht wäre. Das Verständnis von Gleichheit und Gerechtigkeit hat sich geändert. Eben weil die Menschen nicht gleich sind, weil Rechtsanliegen oder -streitfälle spezifische Hintergründe und Bedingungen aufzeigen, sollen sie beachtet und gewogen werden.

Die Natur ist nicht gerecht. Wie soll ein Ausgleich hergestellt werden für klimatisch Benachteiligte? Welche Bedingungen könnten als Belastung gelten, welche als Vorteil? Soll gegenverrechnet werden, um eine gerechte Situation zu schaffen? Schon im eigenen Land gibt es enorme Unterschiede: Alpine Gegenden, Lawinen- und Hochwassergefährdungen, Verkehrsversorgung, landwirtschaftlich günstig zu bebauende Gegenden, Industriegegenden, Städte unterschiedlicher Bebauungsdichte, Lärm an der Autobahn, in den Städten: wer soll was erhalten, wer wofür bezahlen? Schauen wir über die Grenzen, werden die Unterschiede noch krasser: nordische Zonen, Wüsten, Tropen, gefährdete Küstengebiete, unzugängliche Gebirgsregionen …

Im Bildungsbereich wird es kompliziert: Wie bestimmt die Gesellschaft gleiche Zugangschancen zu den Bildungseinrichtungen? Wieweit hängt die Leistung vom Einzelnen ab, wesentlich mitbestimmt von seiner je eigenen Sozialisation, seinen Talenten, seiner Persönlichkeit mit ihrer Wertsicht?

Wie gerecht ist es, dass die eine talentierter ist als die andere? Sollen Begabunen missachtet werden? Sollen die Minderleister auf das Durchschnittsniveau gehoben werden? Wie bestimmt sich dieses, wenn die Hochbegabten nicht adäquat ‘gewichtet’ werden, wenn die Zielrichtung auf das Mittelmaß festgelegt ist? (Der Begriff ‘Druchschnitt’ wird zu leicht unbedacht und unberechnet, verwendet; es wäre hilfreich, nicht nur die arithmetische Bewandtnis zu bedenken oder die Schnittmenge, sondern das gesellschaftliche Verständnis dieses Begriffs.)

Wie beeinflusst unser Gerechtigkeitssinn die Gesundheitspolitik, die Fürsorge, die Altersversorgung? Soll Dummheit steuerlich belastet werden, ähnlich einem Malussystem in den Versicherungen? Soll ungesunde Lebensführung, die in kostspieligen Behandlungen sich äußert, den Einzelnen verrechnet werden oder soll die Allgemeinheit dafür zahlen? Ist also die Ahndung von Drogenkonsum korrekt, vernünftig und gerecht? Oder wäre es besser, Drogen freizugeben? Sollte Rauchen generell verboten werden? Warum nicht Alkohol verbannen? Weshalb Fast-Food gestatten? Was wäre gerecht?