Lewitscharoffs abartige Halbwesen

/ Haimo L. Handl

Das Staatsschauspiel Dresden veranstaltet im Verbund mit der Sächsischen Zeitung seit 1992, seit der Wende also, die inzwischen bekannt oder berühmt gewordenen „Dresdner Reden“ mit prominenten Zeitgenossen. Die jüngste Rede der Büchner-Preisträgerin Sibylle Lewitscharoff vom 2. März, „Von der Machbarkeit. Die wissenschaftliche Bestimmung über Geburt und Tod“, wirbelte heftige Reaktionen auf, führte zu scharfen Protesten.

Die gepriesene Autorin hatte in einer fundamentalistischen religiösen Sicht sich nicht nur zum Sterben und dem Tod geäußert, sondern auch zu Fragen der Reproduktionsmedizin, künstlichen Befruchtung und Leihmütterschaft, und dabei ihrem Abscheu über die „Abartigkeit“ letzterer Praktiken formuliert. In einer Sprachwahl, die dem Nazijargon entlehnt ist, sprach sie von der ihr „zutiefst suspekten“ „Selbstermächtigung der Frauen“, von der „wahrhaft vom Teufel ersonnene[n] Art“ der künstlichen Befruchtung bzw. Leihmütterschaft, die die Frauen zu Gebärmaschinen degradiere, die Kinder in die Welt setzen, die als „Halbwesen“ anzusehen sind, „zweifelhafte Geschöpfe, halb Mensch, halb künstliches Weißnichtwas.“

Es hagelte Proteste. Der Chefdramaturg des gastgebenden Hauses, Robert Koall, schrieb einen offenen Brief und distanzierte sich klar von der Autorin, die in seinen Augen die Menschenwürde verletzte, deren Aussagen bewusst „Absetzung, Ausgrenzung, Abschottung, Abschaffung“ befördern anstatt Toleranz und Verständigung. „Ihre Worte sind nicht harmlos, Frau Lewitscharoff. Aus falschen Worten wird falsches Denken. Und dem folgen Taten. Deshalb sind es gefährliche Worte.“

Eine junge Autorin, Judith Schalansky, selbst „lesbisch lebende, schwangere Frau“, die sich künstlich befruchten ließ´, prangerte die „ungeheuerliche Hetze“ an: „Der Abscheu, so gibt sie selber zu, übersteige in diesem Punkt ihre Vernunft. Genau die vernunftlose Verachtung ist der Ursprung für Hass auf alles Andere und Abweichende, für Rassismus und Homophobie.“ Sibylle Berg wundert sich: „Warum können Menschen nicht irgendwann alte Muster und Idiotien hinter sich lassen und weitergehen? Es gibt noch genug Mist aufzuräumen, fangen wir an. … Unverständlich jedoch: Was bringt scheinbar gesunde, gutsituierte Menschen dazu, unverdrossen über Dinge zu reden, die sie nicht betreffen, sondern nur die Trägheit ihres Geistes zu offenbaren?“

Frau Berg, nicht gerade eine Leuchte, und deshalb in den Massenmedien erfolgreich, streut selbst ein paar bedenkliche Wertungen in der alten, ächtenden Art ein, die aber nicht so hart oder abstrus klingen, wie die monierten. Die Lewitscharoff ist nur „scheinbar gesund“ und quasselt über Dinge, die sie nicht betreffen, als ob Fragen über Leben und Tod und Geburt und Religion und Leihmütter und künstliche Befruchtung nur von den wirklich, konkret Betroffenen diskutiert werden dürften.

Im Tagesspiegel aus Berlin beschließt Gerrit Bartels die Kritik folgendermaßen: „Vieles von dem, was die Autorin von preisgekrönten Büchern wie ‚Pong’, ‚Apostoloff’ und ‚Blumenberg’ in Dresden vortrug, basiert auf ihrer Abneigung gegen die Frauenbewegung der 60er und 70er Jahre und der von heute. Schon in ihrer gleichfalls nicht großartigen, mitunter läppischen, mitunter seltsamen Büchner-Preisrede hatte Lewitscharoff einen Seitenhieb untergebracht: ‚Die Frauenbewegung in Deutschland und den USA ist ein Trampolin für ausgeschnitzte Verrückheiten.’“ Nun, der Seitenhieb wird zurückgegeben.

Einzig die Frankfurter Allgemeine Zeitung versuchte in einem Interview kritisch seriös die Problematik zu behandeln („Darf ich nicht sagen, was ich denke?“). Liest man dieses und auch die Rede, die online abrufbar ist, wird sich wahrscheinlich die Verurteilung oder negative Kritik an den Äußerungen Lewitscharoffs nicht mindern, aber differenzierter abstützen und begründen.

Bleibt man bei den Reizworten kleben, übersieht man den Unter- und Hintergrund der Problematik. Solche Schelten befriedigen vordergründig, blenden aber das Wesentliche aus. Unsere Medien sind in der Mehrzahl geradezu darauf spezialisiert und erpicht, reflexartig, bedenkenlos, zu reagieren. Bedenkt man aber die Aussagen, kann die Kritik sogar tiefgehender werden, ohne in ein Bashing abzugleiten.

Frau Lewitscharoff hat nicht nur Religionswissenschaft studiert, sondern ist, nach ihren Worten, selbst tief religiös und konservativ (in ihrer Jugend war sie Trotzkistin). Ihre Abneigung der Frauenbewegung hat mit ihrem Menschenbild und ihrer Schöpfungsvorstellung zu tun. Mit ihrer Ansicht von Leben und Schicksal, von Selbstermächtigung, die sie als negatives Resultat eines Machbarkeitswahns sieht. Diese religiöse Haltung, nicht zuletzt unterstützt von der Erstarkung des Islams und seines Einflusses in Europa, ist Ausdruck einer Sehnsucht in alte Werte, in eine Übersichtlichkeit bzw. Überschaubarkeit, die durch die Verwissenschaftlichung (Aufklärung) verloren ging. Es ist kein Zufall, dass die tiefe Angst vor der Moderne, das Unbehagen an der Kultur als Moderne, Grundboden religiösen Denkens einerseits, ultrakonservativer oder rechtsextremer Denkweisen andererseits ist. Mit der Kritik an der Selbtermächtigung wird das zentrale Problem der Verantwortung angesprochen.

Lewitscharoff: „Mir ist, sowohl was das Leben anlangt als auch den eigenen Tod, die um sich greifende Blähvorstellung der Egomanen, sie seien die Schmiede ihres Schicksals, sie hätten das Schicksal in der Hand, seien gar die Herren über es, zutiefst zuwider. Das ist ein lächerlicher moderner Köhlerglaube, der einfach nicht wahrhaben will, dass wir alle eine fragile Mixtur aus unterschiedlichen Einflüssen sind, in der Familie, Biologie, Gesellschaft und Generationserfahrung eine gewaltige Rolle spielen, und es sehr schwer sein dürfte, das, was unserem ureigenen Inneren entspringt, trennscharf davon zu unterscheiden. Die Egomanen rechnen alles Glück, das ihnen winkt, dem eigenen Verdienste zu; wo hingegen alles Pech, das ihnen widerfährt, dann einzig und allein aufs Konto böser Widersacher geht. Die Tatsache, dass auch sie sterblich sind und alsbald durch andere Menschen ersetzt werden, ist für solche Leute schwer hinnehmbar. Und um darüber vermeintlich selbst zu triumphieren, wollen sie die verstörende Angelegenheit im Voraus regeln, um wenigstens einigermaßen Herr über den leidigen Vorgang zu bleiben.“

Und weiter: „Wenn es nichts Höheres als uns selbst gibt, bleibt auch das innere Wissen um uns selbst klein, weil wir uns selbst nicht erkennen können. Es ist ein großer Trugschluss zu glauben, dass wir zur Selbsterkenntnis wirklich durchgreifend fähig wären.”

Das wird von allen Religiösen, also der überwältigenden Mehrheit, geteilt. Nicht geteilt werden gewisse Schlussfolgerungen und die Arten ihrer Begründungen. Aber wir dürfen nicht nur bei den Begründungen und ihren Formulieren, auch den Reizworten, stehenbleiben, sondern müssen den Kern des Problems ins Auge fassen. Es geht um die Verantwortung des Einzelnen, des Individuums, die Verantwortung der Gesellschaft, die durch die Individuen geschaffen wird, bzw. jene Einflüsse, die eine solche Schaffung jenseits des persönlichen Einflusses bestimmen oder oktroyieren. Es geht um das Spannungsfeld von Selbstbestimmung und Fügung, um Freisicht und Erfüllung nach einem übermenschlichen, göttlichen Plan. Bei Sibylle Lewitscharoff äußert sich der Ruf nach Unterwerfung durch Folge des Schöpfungsplans. Sie spricht wie Islamisten, die als Gläubige die Ungläubigen verurteilen. Hier kann es auch keine Toleranz geben, weil diese nicht nur den eigenen Glauben schwächte, sondern den Schöpfungsplan angriffe und in Frage stellte. Es geht also um eine unverbrüchliche Ordnung, eine tabuisierte, die vor den Angriffen des Fortschrittdenkens, dem, was früher Aufklärung hieß, bewahrt und geschützt werden muss.

Viele Kritiker von Lewitscharoff und ihresgleichen sind selbst religiös und befinden sich eigentlich in einer schizophrenen Lage. Vielleicht fokussieren sie deshalb nur auf Reizworte, bleiben auf der Oberfläche, schimpfen von Homophobie oder Rassismus, weil sie den Kern des Problems par tout nicht bedenken wollen, da es ihre eigene Position erschütterte, sie persönlich stellte, mit den bohrenden Fragen der Eigenverantwortung im Komplex dieser zentralen Werte.

Ein solches Bedenken wird zwar die Wortwahl nicht entschuldigen und hinnehmen, aber doch weiter blicken. Lewitscharoffs Rede ist ein Symptom einer Wertekrise, die nicht nur sie betrifft.