Volle Tassen

/ Haimo L. Handl

Zhuangzi, oder, in älterer deutscher Schreibweise Tschang-Tse (um 365 – 290 v.Chr.), wird unter anderem gerühmt für seine Einsichten in die Bedeutung der rechten Sprache bzw. des rechten Redens für das Volk bzw. den Staat. In der deutschsprachigen Tradition der Sprachkritik kann man eine Linie ziehen von seinen grundlegenden Gedanken über Carl Gustav Jochmanns (1789-1830) Einsichten, radikalen Kritiken und Forderungen bis zur beißenden Sprachkritik des Karl Kraus (1874-1936). Die Sprachauffassung dieser drei exemplarischen Stimmen sieht die unbedingten Verbindungen und Zusammenhänge von Gesellschaft und Sprache in einer Weise, die höchst politisch, ja aufklärerisch ist. Kein Wunder, dass sie zwar nicht vergessen wurden, aber doch nicht allgemein, also gesellschaftlich, beachtet oder weiterentwickelt werden.

Sprache hat man nicht einfach, sondern muss sie erlernen. Sprache ist gebildet und wird gebildet, man erwirbt sie. Hier drängt sich die Kardinalfrage auf: entwickelt sich die Sprache nach den gesellschaftlichen Bedingungen (Freiheit, Handlungsräume, Werte) oder beeinflusst die Sprache über ihre Begriffe das konkrete Sein, die Praxis der Gesellschaft? Das alte Problem von Unter- und Überbau, von Materialismus und Idealismus.

Bevor ich denke und spreche, muss ich wahrgenommen haben. Die Wahrnehmungsbedingen, die Intentionen, die Auswahl, das Vermögen Neues oder Fremdes einzugliedern in das bereits Vorhandene usw. sind wesentliche Elemente des Denkvermögens als Bedingungen des Sprachvermögens. Unser Gehirn hätte zwar die Kapazitäten für noch viel mehr Perzeptionen, als wir sie gemeinhin leisten. Aber das Bild vom „Zuschütten“, das neues Wahrnehmen und Denken be- oder gar verhindert, ist dennoch nicht falsch, weil es Haltungen und Einstellungen meint, Dispositionen also, die das Eine eher sehen, ersehen und wahrnehmen, oder das Andere übersehen, ausblenden lassen.

In diesem Lichte verstehe ich eine Anekdote aus dem alten Japan:

Nan-in, ein japanischer Meister aus der Meiji Ära (1868-1912), erhielt den Besuch eines Professors, der sich über Zen erkundigen und bilden wollte. Nan-in servierte Tee. Er goss die Tasse des Gastes voll, und hörte nicht auf damit, goss weiter. Der Professor beobachtete, wie die Tasse überquoll, und konnte schließlich sich nicht mehr zurückhalten. „Sie ist übervoll. Es geht nicht mehr hinein!“ „Wie diese Tasse“, antwortete Nan-in, „sind Sie voll ihrer eigenen Meinungen und Spekulationen, wie kann ich Ihnen Zen zeigen, bis sie erst Ihre Tasse geleert haben?“

Klar kann man sich nicht gänzlich leeren. Die tabula rasa, würde sie ernstlich radikal unternommen, löschte uns aus. Aber im übertragenen Sinne heißt die vernünftige Folgerung: zumindest soweit „leeren“, von den Haltungen, Gewohnheiten, Denkbildern, Denkräumen, Werten und Begriffen, dass das Neue oder Fremde überhaupt gesehen, angenommen und bedacht werden kann. Es geht um geistige Offenheit. Hätte ich mich ganz geleert, wäre ich auch jenes Wissens ledig, das mir erst eine Wertung und Bewertung, des Alten wie des Neuen, ermöglicht. Es geht also um ein vernünftiges Verhältnis von Erlerntem (Sozialisiertem) und Neuem. Das Neue kann seinen Wert erst im Bezug zum Alten gewinnen. Denn nichts ist isoliert wertig. Diese Tatsache begründet auch die politische Sprachauffassung der drei vorgenannten Kritiker.

In unseren hoch entwickelten Gesellschaften, ausgestattet mit den bestmöglichen technischen Kommunikationsmitteln, zeigt sich eine bedenkliche Disproportionalität zwischen Theorie und Praxis, zwischen Voraussetzungen und Erreichtem: anstatt Vielfalt Einfalt, anstatt Offenheit Borniertheit bzw. ängstliches Ducken innerhalb der Grenzen der Denkverbote, kontrolliert von einer Gedankenpolizei, die, im Widerspruch zu den gängigen Bildern der gepriesenen Individualität, eine Gleichschaltung bewirkt.

Manchmal ist es nicht nur angebracht, „alle Tassen im Schrank“ zu haben, sondern auch eine verwendete zu leeren, will man sie neu füllen.