Misstrauensverhältnisse

/ Haimo L. Handl

Die Affäre Edathy, die unversehens zu einer Affäre Friedrich wurde und jetzt zu einer ernsten der SPD-Führungsriege, könnte die junge Koalition, die nach langwierigen Verhandlungen mühsam gezimmert wurde, gefährden oder zumindest so schwächen, dass sie nicht lange halten wird. Zwei Verhaltensweisen zeichnen die Problematik aus: den Rechtsbruch durch den ehemaligen deutschen Innenminister Friedrich, in dem er dem Koalitionspartner in spe vertrauliche Informationen über einen SPD-Politiker gibt, gegen den internationale Ermittlungen wegen Kinderpornographie laufen, damit die SP ihre Personalfragen entsprechend gestalten könne. Das heißt, falls die Fraktion Pläne hat, Herrn Stephan Edathy in ein Amt zu hieven, was erwartet worden war, diese zu ändern. Was auch geschah. Zweitens das fragwürdige Agieren von hohen SPD-Politikern in dieser Angelegenheit mit dem Verdacht der Beihilfe zur Vereitelung von Strafverfolgung durch Warnung des Verdächtigen.

Die Informationsgefälligkeit, die Hans-Peter Friedrich, damals im vergangenen Oktober gewährte, ist eine Kumpanei. Friedrich wollte das Problem einer möglichen Koalitionserschwernis abwenden, indem er rechtsbrüchig ein Dienstgeheimnis verletzte. Er behauptet, dies aus Sorge nur in einem vertraulichen Gespräch mit dem SP-Parteivorsitzenden Sigmar Gabriel unternommen zu haben. Dieser jedoch weihte sofort seine Partner ein, Frank-Walter Steinmeier und Thomas Oppermann, damals parlamentarischer Geschäftsführer der SPD. Und Herr Oppermann, der im Gerspräch für den Innenministerposten stand, der als ehemaliger rechtspolitischer Sprecher erfahrener ist als ein Hinterbänkler, rief den Präsidenten des BKA, Jörg Ziercke, an um zu erfahren, ob an den Hinweisen etwas dran sei. Im Klartext: Herr Oppermann mutete dem Chef des BKA zu, seinerseits rechtsbrüchig Dienstgeheimnisse zu verraten. Der sorglose Umgang mit rechtsstaatlichen Prinzipien ist schreckenerregend.

Ironischerweise wurde die „Aufdeckung“ just von Thomas Oppermann selbst unternommen, in einem untauglichen Versuch, Aufmerksamkeit im Fall Edathy von der SPD abzulenken. Dazu scheinen alle Mittel recht. Damit beweist aber die SPD, dass sie gleich auf mehreren Ebenen nicht vertrauenswürdig ist. Zugleich wird dem Souverän, dem Volk, einmal mehr klar gemacht, dass das Konzept des Rechtsstaats sehr willkürlich gedeutet wird, und es nur einigen „Ausrutschern“ oder unbedachten Aktionen zu danken ist, dass Missbräuche und Rechtsverletzungen an die Öffentlichkeit gelangen.

Bei all dem geht aber ein anderes Problem unter. Das der Vorverurteilung mit all seinen Konsequenzen. Denn Stephan Edathy wurde politisch aus dem Verkehr gezogen, bevor es eine Anklage gab oder ein ordentliches Verfahren. Es genügte eine kleine Information aus Kanada, dass politisch reagiert wurde, als ob der Verdächtige schuldig sei. Wäre alles „gut“ gegangen, hätte niemand ausgeplaudert oder gezielt politisch unvernünftig gehandelt, wüssten wir nichts davon. Die Frage drängt sich auf, in wie vielen anderen Fällen wir nichts wissen, oder in wie vielen Fällen wir Falsches, Zurechtgezimmertes wissen.

Dieser Tatbestand untermauert den Niedergang rechtsstaatlichen Bewusstseins. Der wiederum steht im Zusammenhang mit einer Schwächung der Privatsphäre und einer perversen Ausdehnung des Öffentlichen samt den nicht hinterfragten anmaßenden Ansprüchen auf Informationen, die in den allermeisten Fällen zu öffentlichen Verurteilungen, nämlich Vorverurteilungen, führen. Der Mob, die Plebs, heute modern organisiert über die sogenannten social media, führt in der westlichen Welt zu einer besorgniserregenden Umkehrung rechtsstaatlicher Grundsätze, darunter vor allem des Prinzips, dass Ankläger eine Schuld beweisen müssen, dass die Beweislast nicht umgekehrt wird, dass eine Straftat nachgewiesen werden muss usw. Aber die Melange von Opferkult und aggressivem Verfolgungsdenken sowie einem überbordendem Strafbedürfnis schafft ein Klima, dem viele Akteure der Politik und Justiz, der Wirtschaft und, vor allem, der Medien, nachgeben bzw. mit ihm profitabel kollaborieren. Gefühl ersetzt Vernunft, Quote ersetzt Qualität.

In den USA beweisen die Beschuldigungen Woody Allens, wie schnell im Land der Freiheit, dem Musterland der Demokratie, jemand öffentlich verurteilt, fertig gemacht wird, nur weil in den Medien Beschuldigungen auftauchen, die willfährig im Dienste der Öffentlichkeit als „Information“ verbreitet werden. Ähnliche Fälle kennen wir aus Großbritannien und anderen westlichen Rechtsstaaten, nicht zuletzt aus Deutschland und Österreich.

Dieser einfache Weg der Vordergründigkeit ist hoch gefährlich. Er hebelt Grundlagen unserer Rechtssysteme aus, schafft einen Zustand wie zu Zeiten des dunklen Mittelalters, als der schiefe Blick schon genügte für die Verfolgung und Bestrafung bzw. „Wahrheitssuche“ durch „Gottesurteile“ und dergleichen mehr. Er schafft ein Hetzklima, das Vertreter der Politik und Justiz in immer mehr Fällen dazu bringt, mitzumachen, nachzugeben. Jeder für sich. Jeder gegen jeden.

Dieses Klima begünstigt auch die Verantwortungslosigkeit. Einerseits verwischt der Opferkult Fragen nach persönlicher Verantwortung, andererseits reicht sie ungeprüft für öffentliche Verurteilungen mit allen Konsequenzen. In solchen Gesellschaften agieren erfolgreich Moralapostel wie die Feministin Alice Schwarzer, die sich aber beklagt, dass ihre erwiesenen Steuerbetrügereien, die sie als Steuerhinterzieherin über Jahre begannen hat, zu einer Rufmordkampagne geführt hätten. Da werden flugs Begriffe verdreht, weil es ins Opferbild passt. Die Steuerhinterzieherin sei nicht Täterin, sondern Opfer, weil die Öffentlichkeit einen Rufmord begehe. Rufmord aber bedingt aber unwahre, verleumderische Behauptung. Doch die öffentliche Aufregung basiert auf anerkannten Fakten; ihren Ruf hat sie schon selber verletzt oder geschändet. Frau Sauberfrau will das umdeuten.

Es könnten seitenlang ähnliche Beispiele von Umkehrungen und Verdrehungen zitiert werden, die alle belegen, wie pervers sich unsere Rechtskultur entwickelt hat. Im Kern geht es nicht nur um eine Unübersichtlichkeit, wie sie vor Jahren Jürgen Habermas konstatierte und reflektierte, sondern um eine Unverbindlichkeit, die dem konkreten Handeln mehr und mehr den Boden entzieht.