Worte, nichts als Worte

/ Haimo L. Handl

Es herrscht kein Vertrauen. Ganz allgemein nicht. Weder in Banker, noch in Politiker, nicht in Manager oder Unternehmer. Aber auch privat wird wenig vertraut. Die Beziehungskrisen steigern sich so stark, dass immer öfter sozialpsychologische Hilfseinrichtungen beansprucht werden. Am schlimmsten steht es mit dem Vertrauen in die Sprache. Worte gelten nichts. Besonders in den sogenannten social media lässt sich das ablesen. Meist ist der Ton rüpelhaft, böse, schnöde, höhnend. Die Alltagssprache widerspiegelt aber korrekt den Status unseres Sozialsystems einer konkurrierenden Klassengesellschaft, deren Mitglieder meist von einem gesteigerten Egoismus geleitet werden. Höflichkeit, Angemessenheit, Respekt sind Fremdworte. Die Alltagssprache, wie sie vor allem im anonymen Internetverkehr sich äußert, entblößt das Ungehemmte, das Asoziale, das Böse.

Aber neben diesem Phänomen zeigt der öffentliche Sprachgebrauch der Politik und Wirtschaft, ja sogar der Literatur, dass verantwortliches Sprechen nicht en vogue ist. Es gilt eine gewisse Bedenkenlosigkeit. Es scheint, als ob Klischees immer häufiger, Euphemismen immer leichter und öfter gebraucht würden, als ob eine neue Unverbindlichkeit sich breitmachte.

Besonders Abstrakta eignen sich als Leerformeln. Bedeutungen sind ja nicht inhärente Werte von Zeichen, sonder resultieren aus den Verbindungen. Kontexte bestimmen Sinn und Bedeutung. Je vager, je ungenauer aber Worte gebraucht werden, desto leichter scheinen sie eine vermeintlich „innere“, „eigentliche“ Bedeutung zu transportieren, was aber nicht der Fall sein kann.

Das Ausblenden des Umfeldes kommt einer Enthistorisierung gleich, ja einer Art Entgesellschaftlichung. Die „Währung“ Sprache, über ihre Münzen und Scheine (Wörter), wird nicht nur wegen des inflationären Gebrauchs von Leerformeln und Euphemismen entwertet, sondern auch wegen schwacher Referenzen, dünner oder gar fehlender Verweise auf das Bezeichnete, aufs Konkrete.

Freiheit, Würde, Markt, Wohlstand, Reichtum, Armut, Partizipation, Rechte, Privatisierung, Europa, Gesellschaft, Gemeinschaft, Erbe, Kultur, Bildung, Beruf usw. sind so unverbindlich, so offen, so vieldeutig, so nichtssagend geworden, dass sie nur noch oberflächlich schimmern, aber keine Bedeutungen mehr anzeigen und transportieren, die „verbindlich“ anerkannt oder widersprochen sind, sondern vage, vermeintliche Bedeutungsfelder darstellen, die für das Eine und Andere, oft im gegenteiligen Sinn, verwendet werden.

Wie steht es um die Würde einer Person, die vom Staat zwangsobserviert wird? Wie steht’s um die Freiheit, wenn die Bürgerinnen unter Generalverdacht stehen? Welche Bildung ist mehr als Ausbildung? Was heißt eigentlich Beruf? Gibt es den noch in einer schnelllebigen Gesellschaft, wo die Anpassung an den Markt Dauerwechsel erzwingt (lebenslanges Lernen!), Job-Wechsel fördert mit Schnellkursen, um dem Markt zu genügen, der für uns ALLE da sei. Wer sind aber WIR und ALLE?

Ein rechnender Blick in die Statistiken widerspricht den Allgemeinaussagen über die reiche Republik Österreich. Nein, bloße 10% der Bevölkerung, die Oberschicht, kontrolliert über zwei Drittel des Nettovermögens im Land. Rund die Hälfte der Bevölkerung kommt als „Arme“ auf gerade etwas über 2%.

Würde man die Reden vom reichen Österreich jeweils hinterfragen und mit konkreten Verweisen belegen, wäre das vernebelnde, blendende Geschwätz nicht länger möglich. Ähnliches träfe auf alle anderen Bereiche zu. Frei wovon und wofür? Wie äußert sich Würde im Alltag, im Amt, im Spital, im Verkehr, am Arbeitsplatz, in der Schule und im Kindergarten? Wie hat sich der Würde- und Personenbegriff geändert, dass er neben dem intensiven Gebrauch des Terminus’ „Betreuung“ anstandslos verwendet wird? In Würde betreut? Weil die Betreuungsgesellschaft den Opferkult pflegt, fällt der Widerspruch den meisten nicht mehr auf. Aber das relativiert die Referenz, verändert das Bedeutungsfeld des einfachen Wortes „Würde“.

Und so verstehen wir uns, weil wir uns nicht verstehen, in einer befriedeten, den sogenannten „Sachzwängen“ gehorchenden Gesellschaft. Im Sinne jener, die die Deutungshoheiten verwalten, die die Macht haben. Für die anderen gibt es Massenmedien und Kabarettisten. Panem et circenses.

Einer, der dem Volk aufs Maul schaute und in die Sprache hinein, Karl Kraus, war (und ist) wegen seiner Sprachkritik, die immer auch eine gesellschaftliche war, verhasst. Schon 1912, lange bevor die Nazis den Wahrheitsbeweis lieferten, formulierte er, der das Sprachgras wachsen hörte: „Der Fortschritt macht Portemonnaies aus Menschenhaut.“

Was hören wir heute im modernen, reichen Österreich, in der Europäischen Union? Worte, nichts als Worte, oder mehr?