Geschichtslektionen

/ Haimo L. Handl

2013 meldet 2014 an. 2013 evoziert Erinnerungen an das Ende einer Epoche, den Vorabend vom ersten großen Krieg. Die Magie der Zahl spielt mit im Gedächtniskult unserer Zeit. Vor 100 Jahren war noch Frieden, aber der Krieg „lag in der Luft“, bereitete sich vor, war spürbar, brach aus. Übliche Vereinfachungen äußern sich schon sprachlich. Der Krieg war nicht ausgebrochen, er brach nicht wie eine Naturgewalt über die Menschen herein. Der Krieg war eine von vielen Kräften gesetzte politische Tat, er war geplant und organisiert. Der Krieg war, was er damals war so gut wie heute, die ultima ratio der Politik.

Die verschiedenen Geschichtslehren und Deutungen zeigen auf, dass keine simplen, eindimensionalen Deutungen taugen, dass das Schuldaufrechnen der Komplexität der Ereignisse nicht genügt, dass wir meist noch in alten Schablonen denken, infiziert vom Täter-Opfer-Denken, von nationalistischen Vorstellungen, die offenbar zäh sich halten und den Blick einengen.

Wir haben immer noch keine europäische Geschichte, keine europäischen Geschichtsbücher, die diesen Namen verdienten, sondern nationale Geschichtsdeutungen, die alten Wertvorstellungen, Feindbildern, Ideologien folgen. Das verzerrte Bild ist zwar nicht mehr so einseitig wie damals, in der Zwischenkriegszeit und nach dem Zweiten Weltkrieg, aber es herrscht immer noch die Geschichtsschreibung der „Sieger“, ihre Deutung. Und damit gelten immer noch simplifizierte Vorstellungen von „Schuld & Sühne“, von „gut & böse“, von „Tätern & Opfern“.

Erst jetzt, nach 100 Jahren, kann die Komplexität und Diversität der „Faktenlage“ etwas angemessener als früher interpretiert werden, erst jetzt scheint die historische Distanz andere Blicke und Deutungen zu ermöglichen, ohne dass sofort automatische, reflexartige Abweisungen erfolgen. Aber eine nüchterne historische Deutung erregt immer noch Anstoß, wird zum Auslöser von Abrechnungen. Eine europäische Geschichtsinterpretation müsste in der Lage sein, ohne Rücksicht auf nationale „Heiligtümer“, fixe „Wahrheiten“ und als verbürgt angesehene Konzepte die verworrene Lage zu entwirren, die Hintergründe sorgfältiger herauszuschälen und zu beleuchten, die Zentren (Plural, es gibt nicht EIN Zentrum!) und die Vordergründe interpretatorisch ins Denkfeld zu bringen, um daraus historische Erkenntnisse zu gewinnen.

Sobald aber das politische (Wunsch)Denken die Blicke richtet, die Perspektive bestimmt, wird auch der Deutungsrahmen determiniert. Unsere Historiken sind immer noch befangen. Es gibt nicht DIE Historie, sondern es existieren verschiedene Geschichten, samt den diversen beanspruchten und angemaßten Deutungshoheiten.

Es geht nicht darum, dass nur EINE Historie gelten sollte oder müsste, sondern, dass im Deutungsstreit die Relativität anerkannt wird, und damit eine offenere Behandlung der Fragen und Antworten, die der Erkenntnis folgen bzw. sich von ihr leiten lassen: Es gibt keine Eindeutigkeit, keine simple alleinige Wahrheit. Aber es gibt eine Komplexität, die sich von verschiedenen Standpunkten, z. B. nationalen, so oder anders deuten lassen. Das Abwägen und Vergleichen und Werten (Bewerten) dieser verschiedenen Auslegungen müsste sich aber nicht nur an den vorhanden Daten aus allen Ländern orientieren, sondern sich auf eine übernationale Ebene erheben, um die Befangenheit, die eingeengte Zu- und Ausrichtung, zu überwinden, um die Historie historisch zu „begreifen“.

Dann erst könnten wir die alte Forderung „aus der Geschichte lernen“ als ernst genommen verstehen. Dass wir davon noch meilenweit entfernt sind, lehren uns die Politiken der Gegenwart.