Geschlechtergerechtigkeit

/ Haimo L. Handl

Trotz langer, intensiver und vielfältiger Bemühungen, nicht nur von ausgewiesenen Feministinnen, haben die ‘fortgeschrittenen Ländern’ immer noch keine Situation zu schaffen vermocht, in der Frauen z. B. gleichen Lohn für gleiche Arbeit erhalten. Rechtlich gibt es zwar in diesen Ländern schon lange eine Gleichstellung, praktisch aber existieren nach wie vor wesentliche Unterschiede.

Das betrifft aber nicht nur den Lohnsektor, sondern auch die Berufswelt; die Anzahl von Frauen in Führungspositionen ist höchst ungleich. Auch in politischen Vertretungen greift das Quotendenken nicht zufriedenstellend. Frauen werden also diskriminiert, sagt man. In der Werbung wiederum erscheint das weibliche Geschlecht zu oft übersexualisiert. Und in den Künsten? Ein völlig verzerrtes Bild in Literatur, visuellen Medien, Film und Fernsehen!

Die Frage ist, ob Filme oder Prosawerke oder bildnerische Kunst eine gesellschaftliche Verpflichtung haben, Frauen als Protagonisten „gerecht“ „abzubilden“ bzw. zu bilden, zu „behandeln“ haben. Es ist das alte Problem der Ungleichheit, des bias, der beeinflussenden Schlagseite, der fatalen Einseitigkeit versus der konzertierten Gegenaktion hinsichtlich einer gerechten Widerspiegelung oder einer erzieherischen Fokussierung auf eine Vielschichtigkeit, die deshalb gewisse Aspekte überbetont und nicht bloß widerspiegelt, sondern zielgerichtet konstruiert, voranstellt, auf dass die neuen Bilder, die neuen Rollen, die neuen Werte, endlich zu einer REALEN gesellschaftlichen Veränderung führen. Literatur und Kunst, Filme, und vor allem die Werbung, als Instrumente der Erziehung.

Hinter solchen Überlegungen liegen Denkkonzepte mit einer ganz spezifischen Auffassung von dem, was man früher, vor allem bei den marxistisch Denkenden, Überbau nannte, und seiner Funktion bzw. den Änderungsmöglichkeiten. In den diversen Sprachpolitiken haben die gender politics schon sichtbare Erfolge. Man darf heute nicht mehr reden wie man früher sprach, sondern muss sich nach gender criteria richten. Denn über die Sprache werden Werte vermittelt, Sprache selbst ist ein Herrschaftsinstrument, und über Sprache verfestigen sich Vorstellungen usw.

Wenn also in der Sprache das weibliche Geschlecht anders beachtet wird als früher, können wir eine gesellschaftliche Änderung erwarten. Man seht das an den Erfolgen der Gleichstellungspolitik. Die Misserfolge im realen Leben können auch so gedeutet werden, dass es noch strengerer Vorschriften bedarf, das patriarchale, maskuline Denken, das die Sprache verseucht hat, viel radikaler zu eliminieren.

Der Kampf gegen den Sexismus viel schwieriger. Es gibt einige Erfolge im Bereich der Werbung. Aber in der Unterhaltungsindustrie sieht es schlimm aus. Die bestehenden Gesetze bieten nicht genügend Mittel drastisch gegen den Sexismus vorzugehen. Die Bilderwelt ist ein immer noch einseitiges Beeinflussungsmittel des Patriarchats bzw. der sexistischen Männergesellschaft. Es braucht mehr Verbote.

Es werden jetzt, dem Zug der Zeit der Reaktion, neuen Angst und Biederkeit, moralischer Entrüstung und verstärkten gender activities folgend, in einigen Ländern die Prostitution verboten, die Verbreitung von Pornografie eingeschränkt usw. In einigen Ländern, denen das Wohl des Heranwachsens der Jugend ein hohes Anliegen ist, sollen Studentinnen und Studenten nicht mehr in gemeinsamen Wohnungen leben dürfen, weil das zu gefährlich ist. Und Familien sollen stärker überwacht werden, weil dort der Missbrauch am häufigsten erfolgt, wie die jüngste Massierung von Fällen beweist.

Interessant ist, dass dort, wo Frauen vor den geilen Blicken der maskulinen Böcke durch Verhüllung geschützt sind, ihr Freiheitsraum just nicht den Gleichheitsvorstellungen der gender activists entspricht. Es zeigt sich auch, dass die gender dreamlined parole nicht automatisch eine entsprechende Praxis nach sich zieht oder bedingt. Es gibt zu viele Hemmfaktoren, die sich resistent zeigen, die von der Sprachreinigung nicht betroffen werden bzw. trotz purifizierter Sprachkodes weiter die Praxis negativ ermöglichen.

Und auch wenn in den tausenden von Krimis und TV-Serien immer mehr Frauenrollen positiv anders besetzt sind als früher, wurde und wird die reale Diskriminierung nicht gemindert. Offensichtlich reichen die Normierungen und Regelungen nicht aus.

Wir müssen anscheinend zu Modellen zurückfinden, wie sie früher z. B. von den Nationalsozialisten eingesetzt wurden, oder von den Bolschewiki, die den „neuen Menschen“ als Erziehungsziel anpeilten. Die waren so konsequent, in ihrem „sozialistischen Realismus“ das zu fordern und zu leisten, was die Geschlechtergerechten wollen: Den Überbau, Kunst und Kultur, in einem Erziehungsprogramm nach klar definierten Kriterien und Regeln.

Das heißt, die Freiheit des Einzelnen, die eh nur eine Chimäre ist, muss strenger eingeschränkt werden im Blick auf das gesellschaftliche Ganze, auf das Ziel einer geschlechtergerechten Gleichheitsgesellschaft. Der Fetisch der persönlichen Freiheit ist zu relativieren. Wie im Straßenverkehr braucht es neue Bestimmungen, neue Regeln, die die Wege lenken, die nur gewisse Verkehrsformen erlauben. Deshalb die Überlegung der Wiedereinführung der Zensur, natürlich anders genannt, um keine Verwechslungen mit den diktatorischen Maßnahmen aus der Altzeit zu evozieren.

Deshalb eine strenger geregelte Sprache. Deshalb eine geregelte Kunstwelt, eine streng überwachte Bilderwelt. Dabei geht es nicht um „geschönte“ Sichten, sondern um die Gleichheitspolitik, die Geschlechtergerechtigkeit. Die Würde der Frau.

Es darf keine falsche Achtung der Tradition geben, insbesondere nicht im Bereich der Kultur. Die Romanstoffe sind zu prüfen, die Libretti der Musicals und Revuen, die Drehbücher müssen kontrolliert und bewertet werden, bevor die Filme in die Öffentlichkeit gelangen. Die Bibliotheken müssen von Schund und Unrat gereinigt werden (allein, was an „Klassikern“ noch herumliegt, birgt Berge von inakzeptablem patriarchalem Undenken, das entweder gereinigt, modernisiert, oder aus dem Verkehr gezogen werden muss).

Folgen diesen Maßnahmen im Überbau die praktischen der Basis (Quotenregelungen, Verbot von Pornografie und Prostitution), erreichen wir die ideale Gesellschaft, den „neuen Menschen“.

In der Sowjetunion fand dieses Unterfangen nach ca. 70 Jahren sein Ende. Bei den Nationalsozialisten brach es noch früher zusammen. Man lernt aus der Geschichte. Die heutigen modernen, „emanzipatorischen“ Maßnahmen stützten sich auf breitere Allianzen (z. B. Feministinnen mit Gruppierungen von Kirchen und Sekten).

Aber der politische und philosophische Diskurs bleibt überraschend dürftig und dünn. Während man bei Arzneimitteln obligat die Warnformel strapaziert, man müsse die Nebenwirkungen beachten, wird hier fast nirgends reflektiert, was diese neuen Maßnahmen im Rahmen der Regelungspolitiken nach sich ziehen: einen noch gigantischeren Überwachungsapparat, eine permanente Verfolgung und Ahndung von Fehlverhalten, das ja jetzt schon nicht am konkreten Verhalten halt macht, sondern schon den Einstellungsbereich untersucht, prüft und aburteilt.

Immer mehr reicht schon der Besitz von verbotenen Medienprodukten als Straftatbestand für eine Verfolgung und Bestrafung, ähnlich wie früher allein der Besitz verbotener Literatur einen ins Gefängnis brachte. Immer öfter werden die Profildaten, die Dank der umfassenden Überwachung gespeichert sind, Grundlage für präventive Maßnahmen, gefährliche Subjekte aus dem Verkehr zu ziehen, immer öfter reichen schon zornige, wütende Äußerungen in der Öffentlichkeit, z. B. in den social media, aus, jemanden gerichtlich zu verfolgen und hart zu bestrafen.

Unseren Gesellschaften stehen heute ganz andere Mittel der Überwachung und Verfolgung zur Verfügung, als früher. Man stelle sich vor, die Tscheka, der NKWD oder die Gestapo hätten das Instrumentarium zur Verfügung gehabt, das heute nicht nur die NSA so erfolgreich einsetzt, sondern praktisch alle modernen Staaten! Hätte diese Technologie ihnen geholfen, den „neuen Menschen“ zu schaffen?

Man redet zwar nicht mehr von dem paradiesischen Zustand der klassenlosen Gesellschaft, aber dennoch von Gerechtigkeit. Vor allem, momentan, von der Geschlechtergerechtigkeit. Sie ist nur eine Sprosse auf der Leiter. Der Kampf gilt der wirklich freien, gleichen Gesellschaft, der Brave New World.