Literatur und Lesen

/ Haimo L. Handl

In Österreich wird die schwache Lesekompetenz vieler Jugendlicher beklagt. Von den Erwachsenen liegen kaum brauchbare Testergebnisse vor. Am gängigen Sprachausdruck der Medien muss man für die Mehrheit auf ein niederes Niveau schließen. Das kommt nicht von ungefähr. Es wäre zu billig, dies mit den Neuen Medien abzutun, mit dem Einfluss des Internet und nun der Smartphones und des sich damit veränderten Kommunikationsverhaltens.

Es begann weit früher. Damit meine ich nicht das Fernsehen, das von vielen als eine Art von spezifischem Kulturabbau gesehen wurde. Nein, es hat mit dem Bildungssystem zu tun, und dieses wieder mit der gesellschaftlichen Wertekrise, wie sie besonders seit den Siebzigerjahren des vorigen Jahrhunderts sich festmachte, und die im besten Fall semantische Lösungen erfuhr.

Ein Aspekt dieser Krise, die sich in einer Orientierungslosigkeit zeigt(e), war und ist eine Unverbindlichkeit, die sich als (pseudodemokratische) Offenheit gibt. Korrespondierend dazu ein gewachsenes Unvermögen Position zu beziehen, zu urteilen, weil dies in der ach so offenen, pluralistischen Gesellschaft als autoritär, elitär oder als „vorgestrig“ verpönt war und ist. Dazu kam ein für den Sprach- und Literaturunterricht fatales Utilitätsdenken. Die Ausrichtung aufs Funktionale, auf eine Literatur, die den Jungen und ihrer Welt direkter und näher entsprach, die ihnen als eine Art von Rezeptur helfen sollte, in ihrer Welt, wo die Schule und die Lehrer sie nach den „modernen“ Vorstellungen der freundlichen Pädagogen ja abzuholen hatten, sich nicht nur zurechtzufinden, sondern zu bestätigen. Damit verschob sich aber der Fokus, das Interessensfeld. Es wurde eindimensional. Klassikerpflege ist verpönt, weil „unbrauchbar“. Was soll dem künftigen Lehrling ein Schiller nützen, was ein Goethe einem späteren Studenten, überhaupt, was soll die alte Literatur aus einer Zeit des schlimmen Patriarchats in einer modernen Zeit?

Der Vorwurf war laut geworden, dass über den Deutschunterricht, der immer auch eine Literatur- und Kulturvermittlung ist, überholte Werte sozialisiert würden, die nicht nur Ballast sind, sondern falsche Wege zeigen. In diesem verkürzten Kultur- und Literaturverständnis taugt nur, was nach gegenwärtigen Erwartungen „richtige“, das heißt „korrekte“ Wege zeigt, oder was als Negativbeispiel dafür verwendet werden kann. Das schränkt das weite Feld ein, klar. Aber es kommt noch etwas Wichtiges hinzu.

Es gibt keinen Kanon mehr. Ein Kanon ist Ausdruck eines Verständnisses, was als wertvoll gilt, was bewahrt und tradiert wird, eine Sammlung, die langsam wächst, die auch abstößt, aber doch einen festen Kern hat, der in Summe das Grundverständnis beachtenswerter Literatur widerspiegelt. Fehlt dieses Grundverständnis bzw. wird dieses in Frage gestellt oder zurückgewiesen, kann es keinen Kanon geben, keine Ausrichtung und Orientierung.

In der schnelllebigen Zeit verkürzen sich die Epochen. Das Vorstellungsvermögen hinsichtlich historischer Zeitläufte als auch literarischer verschiebt sich, wird schwächer, das Unterscheidungsvermögen vergröbert sich, was es schier verunmöglicht, tieferes Verständnis für Historisches zu gewinnen, für Literaturen aus anderen Epochen bzw. für ihre mögliche Wertigkeit in unserer Gegenwart. Diese Wertigkeit ist ja nicht fixiert, so dass man sie nur suchen und finden müsste. Sie wird, wie jede Bedeutungszuschreibung, von den Gegenwärtigen gesetzt. In einer offenen Kultur liefe dieser Prozess komplex, vielfältig, widersprüchlich, streitend, jedenfalls nicht unverbindlich ab. Das setzte aber ein Wertverständnis voraus, das wüsste, was weshalb wie zu deuten ist, was „wertvoll“ aus diesen und jenen Gründen bleibt, was besonders zu annotieren und kommentieren ist usw. usf.

Der einfachere Weg für die Eindimensionalen (Herbert Marcuse schrieb über den eindimensionalen Menschen Mitte der Sechzigerjahre, trug aber paradoxerweise mit seiner von den Linken gierig aufgesogenen Philosophie stark zur Entwertung bei) ist die Purifikation und Reduktion, die genehme Ausrichtung aufs „Brauchbare“ nach ihren gängigen Vorstellungen. Diese Vorstellungen folgen aber mehr und mehr Vorgaben der Wirtschaft und „politischen Korrektheit“, die keinen Raum mehr bieten, das gesamte Spektrum auszuloten, weil das ja Stellungnahme, Urteil bedingte, ein anderes Wissen als jenes, das nur „heutig“ ist.

Die reformierten Lehrpläne haben dem Rechnung getragen. Lehrer, die sich erdreisteten, dennoch gewisse Literatur als vermittlungsnotwendig zu lehren, würden eines autoritären Verhaltens geziehen. Wie in der Wirtschaft herrscht ein „Kostendruck“, ein Diktat des Nutzens und der Relevanz. In der pseudopluralistischen Gesellschaft ist kein Platz für echte Offenheit, für Tradition im positiven Sinne, weil eben das Differenzierungsvermögen untergraben und ausgehöhlt wurde, weil die Orientierung auf die Notwendigkeiten der Gegenwart eine neue Kurzsichtigkeit etablierte, die rigide das ihr obsolet Erscheinende aussondert, abtut, ausmerzt (auch wenn man es nicht mehr „entartet“ nennt).

Da also eine eigentümliche Feigheit, als welche die Unverbindlichkeit genannt werden muss, regiert, darf es nicht wundern, dass sich das in den Lehrplänen und im Lernverhalten auswirkt, was schlussendlich in einem allgemeinen Lesedesinteresse resultiert. Das Problem lässt sich nie und nimmer technisch lösen. Die Aufbau- und Unterstützungskurse sind Kosmetik, sind nicht fundierte ad hoc-Aktionen, wie sie generell die sogenannten Reformschritte der Bildungsmisere kennzeichnen.

Die geringe Lesekompetenz, das allgemeine Desinteresse für Literatur, wurzelt in einem Wertunverständnis einer bedenkenlosen, pseudooffenen Gesellschaft, die im Regime der PC-Culture sich selbst einengt, borniert.