Lampedusas Lacrimosa

/ Haimo L. Handl

Und wieder ging ein Schiff unter und ersoff hunderte von Flüchtlingen aus Nordafrika, die Schlepper von den ungeschützten Grenzen an die Hoffnungsküsten Italiens brachten. Der Schleppertourismus floriert weit intensiver als jener der somalischen Piraten. Gibt es Todesfälle, regt sich das öffentliche Gewissen. Jetzt, bei so vielen Toten, ganz besonders: Staatstrauer ist angesagt und die obligate Schuldzuweisung an Europa. Die EU ist schuld. Italien ein wenig, weil es zu rigide Einwanderungsgesetze habe, die gelockert gehören. Aber die EU sei skandalös. Sie blockiere, sie riegele ab.

Die Auswirkungen der Betroffenheitskultur regen sich, die Gefühle wallen, wie es sich in einer pseudomoralischen Gefühlskultur gehört. Da scheint kein Raum für Argumentation oder kritisches Fragen. Zum Beispiel nach den Ausländeranteilen in den einzelnen EU-Mitgliedsstaaten. Zum Politikum, dass man nicht einfach die Grenzen öffnen und ALLE hereinlassen kann, nicht nur aus finanziellen Gründen. Die Anteile der Erwerbstätigen gegenüber den Arbeitslosen in den EU-Ländern, das jeweilige BIP der Mitgliedsstaaten, die Integrations- und Minderheitenproblematik und vieles mehr.

Italien ist gewöhnt zu jammern. Italien leistet sich einen Politzirkus mit dem verurteilten Betrüger Berlusconi, der das Land entpolitisiert und infantilisiert hat, weil die Mehrheit, ihrem niederen Bildungsstand entsprechend, sich willig dressieren ließ und lässt. In diesem Italien entrüstet sich die arme Bürgermeisterin von Lampedusa gegen Europa. Das arme Italien werde alleine gelassen.

Die Statistiken der per capita-Ausländeranteile in der EU sprechen eine andere Sprache. Italiens Anteil liegt bei 7,5%, der spanische liegt bei 12,3%, Großbritannien rangiert bei 7,2%, während Deutschland, das Hauptziel von Migranten, 8,7% an Ausländern hält, Österreich immerhin 10,8% und die Schweiz, nicht in der EU, aber in Europa, 22%. Die beiden anderen „Spitzenreiter“, Lettland mit 17,4% und Luxemburg mit 43% muss man gesondert betrachten: In Lettland gelten ehemalige Staatsangehörige russischer Herkunft, die sich nicht einbürgerten, aber als Minderheit dort leben, als Ausländer, und in Luxemburg, dem europäischen Büro, wimmelt es von „Ausländern“, professionellen Europäern. Das lässt sich nicht mit Zuwanderern, Asylanten und Flüchtlingen vergleichen.

Die reichen skandinavischen Länder nehmen unterschiedlich viele Ausländer auf: Schweden 6,6%, Dänemark 6,2%, Finnland, das Musterland, gar nur 3,1% (vielleicht, um ihr Bildungssystem, mit dem sie den PISA-Anwälten Munition geben, nicht zu belasten, und ihre Homogenität zu wahren?). Auch Frankreich rangiert mit niederen 5,9% im unteren Skalenbereich.

Diese Anteile an ausländischen Bevölkerungen müssen aber präzisiert werden in solche aus EU-Ländern und Nicht-EU-Ländern. Die höchsten Anteile an Ausländern aus EU-Staaten haben Luxemburg, Irland, Belgien, die Geldwaschinsel Zypern, Slowakei und Ungarn, das einen Ausländeranteil von nur 2,15 hat, dessen Ausländerfeindlichkeit aber offene faschistische Züge trägt.

Die Gruppe der Staaten mit den höchsten Anteilen an Ausländern aus Nicht-EU-Staaten bilden Lettland (aus erwähntem Grund!), Estland, Slowenien, Litauen, Griechenland und Portugal. Diese Pro-Kopf-Anteile müssen, um ein realistisches Bild zu erhalten, mit den absoluten Zahlen in Verbindung gesetzt werden (in Millionen): Deutschland 7,14; Spanien 5,7; Großbritannien 4,4; Italien 4,2 und Frankreich 3,8. Das untere Drittel zeigen Schweden mit 590 Tausend, Portugal 457, Tschechien 424, Lettland 392 und Luxemburg mit 215 Tausend Ausländer.

In einer Bewertung der Problematik müsste nun das BIP im Zusammenhang mit den Anteilen von Minderheiten, der Erwerbs- und Arbeitslosenquote sowie den präzisierten Ausländeranteilen berücksichtigt werden. Die meisten Medien verweigern sich einer Analyse und belassen es bei Gefühlsduselei. Viele Politiker weichen den Fakten aus und bemühen populistische Konzepte und Maßnahmen. Nicht nur dieser Populismus, die Ausländerpolitik insgesamt, müsste im Bild der jeweiligen politischen Kultur eines Landes bewertet werden, der Absonderungs- bzw. Integrationsproblematik. Opferkult alleine löst gar nichts.

Die Italiener zeigen den falschen, verlogenen Weg. Das heißt nicht, dass die EU-Vorgaben für Einwanderung begrüßenswert wären. Aber so tun, als ob man einfach die Grenzen öffnen müsse, um das Problem zu lösen, ist falsch, inakzeptabel und auch unrealistisch.

Bemerkenswert auch, dass die Ausländerpolitik, angeheizt durch solche Unglücksfälle, mehr öffentliche Aufmerksamkeit erfährt als das schlimme „Schicksal“ der Roma, die als Europäer, als größte Minderheit in der EU, fast keine Rechte genießen, hin- und hergeschoben, gejagt und vertrieben werden. Roma sind keine Flüchtling, keine Asylanten, werden aber fast wie Aussätzige abgesondert. Diese Absonderung ist zwar noch keine „Sonderbehandlung“, droht aber eine zu werden. Also müsste die Ausländerpolitik unbedingt mit der Minderheitenpolitik gekoppelt gesehen werden. Dem stehen aber gewichtige Interessen entgegen. Trotz offizieller europäischer Spezialprogramme zur Integration der Roma (inklusive aller anderen Gruppen dieser Minderheit) bleiben die Rechtspraxen skandalös, der Lebensstandard extrem niedrig, die Zukunftsaussichten düster.

Einzelne Zahlen sagen wenig aus. Das Bild ist facettenreich, die Hintergründe sind komplex. Die Ausländerpolitik dagegen operiert simpel und eindimensional. Und die Medien? Die kleben vornehmlich an telegenen Bildern, an Sensationen. Die scheinen die Gefühlsmomente zu liefern für zwei antagonistische Hauptgruppen: die Gutmenschen hier, die xenophoben oder gar rassistischen Abschotter dort. Keine gute Ausgangslage für eine verantwortliche Politik.