Der europäische Landbote

/ Haimo L. Handl

Im Juli 1834 wurde der ‘Hessische Landbote’ verteilt, worin Georg Büchner, dessen 200. Geburtstages wir am 17. Oktober gedenken, gegen den Hof, die Aristokraten, die Regierung zum Widerstand aufrief. Er wurde steckbrieflich gesucht, musste fliehen. Damals konnte man noch vergleichsweise leicht ins Exil. Heute würde ein Georg Büchner als Terrorist gejagt schon versuchen müssen über Europas Grenzen hinweg Schutz zu suchen, und wahrscheinlich nicht finden.

Während die gebildete Kulturwelt seiner gedenkt, während mit öffentlichen Mitteln Forschungsarbeiten zu seiner Person und seinem Werk finanziert werden, tausende Veranstaltungen stattfinden, werden ungleich mehr Mittel in die Prävention sogenannter terroristischer Umtriebe gesteckt, die in seinem Geiste sich immer wieder rühren, heute, hier, bei uns, in Europa.

Damals wurde die Streitschrift mit Warnhinweisen versehen, die heute nicht mehr wirkten, weil die Überwachung schier total ist, es keine Privatsphäre mehr gibt, kein Geheimnis mehr.

  1. Sie müssen das Blatt sorgfältig außerhalb ihres Hauses vor der Polizei verwahren;
  2. sie dürfen es nur an treue Freunde mitteilen;
  3. denen, welche sie nicht trauen, wie sich selbst, dürfen sie es nur heimlich hinterlegen;
  4. würde das Blatt dennoch bei Einem gefunden, der es gelesen hat, so muß er gestehen, daß er es eben dem Kreisrat habe bringen wollen;
  5. wer das Blatt nicht gelesen hat, wenn man es bei ihm findet, der ist natürlich ohne Schuld.

Wer wüsste heute, wer ein „treuer“ Freund ist in einer Zeit, da jeder „Kontakt“ im Social Web ein „freundlicher“ ist? Wer könnte heimlich im Netz etwas platzieren? Wer könnte behaupten, er habe das Corpus Delicti zwar im Besitz, aber nicht gelesen, und damit auf Schonung hoffen?

„Friede den Hütten! Krieg den Palästen!“, war die Losung. Das reichte heute aus für die Aburteilung. Ein Terrorprogramm, das nur dann beklatscht wird, wenn es als Literatur gilt, als zahnloses „Bildungsgut“, das abstrakt bleibt, bluttleer, gefiltert, papieren, als unrealistisches Dokument einer sogenannt freien Kunst.

Heute gilt schon der Ruf nach „gerechter“ Verteilung und Steuerlast als Unruhestiftung und Schädigung des öffentlichen Wohls. Ja keine Vermögenssteuer, keine Erbschaftssteuer! Im Gegenteil: weitere Entlastungen der Unternehmer. Büchner damals, vor 179 Jahren:

„Dies Geld ist der Blutzehnte, der von dem Leib des Volkes genommen wird. An 7.000000 Menschen schwitzen, stöhnen und hungern dafür. Im Namen des Staates wird es erpreßt, die Presser berufen sich auf die Regierung und die Regierung sagt, das sei nötig die Ordnung im Staat zu erhalten. was ist denn nun das für gewaltiges Ding: der Staat? Wohnt eine Anzahl Menschen in einem Land und es sind Verordnungen oder Gesetze vorhanden, nach denen jeder sich richten muß, so sagt man, sie bilden einen Staat. Der Staat also sind Alle; die Ordner im Staat sind die Gesetze, durch welche das Wohl Aller gesichert wird, und die aus dem Wohl Aller hervor gehen sollen. – Seht nun, was man in Österreich aus dem Staat gemacht hat; seht was es heißt: die Ordnung im Staate erhalten! 7.000 000 Menschen bezahlen dafür 137 Milliarden, d.h. sie werden zu Ackergäulen und Pflugstieren gemacht, damit sie in Ordnung leben. In Ordnung leben heißt hungern und geschunden werden.“

Büchner versuchte das berühmte WIR zu klären. Wer sind WIR? Wer ist der Staat? Wer zahlt, wer wird ausgepresst, ausgebeutet, niedergehalten? Wer sind die Unteren, die den Schemel bilden, die Stufen, auf den die Oberen hochsteigen und die Unteren unten halten?

„Wer sind denn die, welche diese Ordnung gemacht haben, und die wachen, diese Ordnung zu erhalten? Das ist die österreichische Regierung. Die Regierung wird gebildet von dem „Volk“ und seinen obersten Beamten. Die anderen Beamten sind Männer, die von der Regierung berufen werden, um jene Ordnung in kraft zu erhalten. Ihre Anzahl ist Legion: Staatsräte und Regierungsräte, Landräte und Kreisräte, Geistliche Räte und Schulräte, Finanzräte und Forsträte u.s.w. mit allem ihrem Heer von Sekretären u.s.w. Das Volk ist ihre Herde, sie sind seine Hirten, Melker und Schinder; sie haben die Häute der Bauern an, der Raub der Armen ist in ihrem Hause; die Tränen der Witwen und Waisen sind das Schmalz auf ihren Gesichtern; sie herrschen frei und ermahnen das Volk zur Knechtschaft. Ihnen gebt ihr 137 Milliarden Euro Abgaben; sie haben dafür die Mühe, euch zu regieren; d.h. sich von euch füttern zu lassen und euch eure Menschen- und Bürgerrechte zu rauben. Sehet was die Ernte eures Schweißes ist.“ [Die Zahlen wurden aktualisiert, anstatt „Großherzogtum“ wurde „Volk“ bzw. „Österreich“ eingesetzt.]

Nun, seine Sprache war bildhaft, aber eindeutig in ihrer direkten Wut. Die heutigen Wutbürger sind dagegen vornehm und „vernünftig“. Bei uns tritt sogar ein Unternehmerpatriarch als politisch Agierender auf und wirbt gegen die Politiker. Bei unsern südlichen Nachbarn versucht ein rechtskräftig verurteilter Großunternehmer den Staat zu erpressen, damit er weiter das Land und seine Leute, die Büchner nie gelesen haben, weiter auspressen kann, damit er selbst nicht zur Verantwortung gezogen wird, damit also das alte Spiel weitergeht. Und so können wir in der Europäischen Union, im Westen und Osten, im Norden und Süden, die alten Vertreter finden, die Palastbewohner, gegen die keine Unteren aus den Hütten wirklich aufstehen, während man Verdis nationalistische Opern genießt, Büchners Dramen akklamiert und was sonst so alles im Kulturprogramm geboten wird. Das System, wie man die herrschende Form „neutral“ nennen könnte, hat obsiegt, allein schon durch die hergestellten „Sachzwänge“, die Abweichungen nur noch im Symbolischen, in der ach so freien Kunst erlaubt, als „Unterhaltung“. Alles Andere wird gejagt, verfolgt, ausgemerzt, denn wir haben ja die Schöne Neue Welt. Wer anders denkt, geht freiwillig ins Irrenhaus.

Büchner wusste das; in einem Brief schrieb er: „ Die Gesellschaft mittelst der Idee, von der gebildeten Klasse aus reformieren? Unmöglich!“ Er hat es versucht, und ist gescheitert. Das feiern wird.