Die neue Unmündigkeit

/ Haimo L. Handl

Schulanfang, Einschulung, Stress. Für Kinder und Eltern. Die Probleme scheinen derart schlimm geworden zu sein, dass ein Heer von Ratgebern, Coaches, Psychologen vielen überforderten Eltern zur Seite stehen. Was wie eine gute Hilfe aussieht, beweist aber auch eine gewachsene Unmündigkeit und gestiegene Abhängigkeit von Experten.

Besorgniserregend ist, dass den meisten diese Abhängigkeit nicht (mehr) auffällt, dass sie es „normal“ finden, jede kleine Abweichung vom getrotteten Alltag als so schwierig zu erfahren, dass sie Expertenhilfe beanspruchen. Und der Apparat, der „Betrieb“, nimmt sich dankbar ihrer an. Über Jahre haben viele Organisationen und ihre „Experten“ die Masse darauf abgerichtet, für fast alles und jedes die Expertise einzuholen, sich professioneller Hilfe zu bedienen.

Nun, in gewissen außerordentlichen Fällen ist solche Konsultation sicher angebracht. Problematisch wird es, wenn das Ordentliche so rasch zum Außerordentlichen gerät, und viele in ihrer Überforderung das nicht mehr leisten, was wir bislang mündigen Bürgerinnen und Bürgern zutrauten bzw. von ihnen einforderten.

Darin drückt sich die Kehrseite der Opferkultur, der Betreuungsgesellschaft aus. Immer weniger wird von Erwachsenen erwartet, sei es in der Elternrolle oder als politisches Subjekt, als Konsument oder als Werktätiger. Das Feld des „Normalen“ hat sich dramatisch verringert gegenüber dem Feld des Unzumutbaren, Speziellen, Abweichenden, das nur noch mit entsprechender professioneller Hilfe „gemeistert“ werden kann. Diese Entwicklung dokumentiert auch den Niedergang persönlicher Verantwortung. Immer öfter müssen Spezialisten, Organisationen oder „der Staat“ über seine dafür geschaffenen Einrichtungen „einspringen“ bzw. Lösungen empfehlen oder sogar anordnen.

Dieser Unkultur entspricht auch eine extrem stark gestiegene Ratgeberliteratur, die für fast alles Hilfe verspricht. Nicht zu vergessen die vielen Ratgebersendungen im Fernsehen, die Talk-Shows und Expertenrunden, die das Publikum mit Expertisen versorgen bzw. Alltagsprobleme als außerordentliche abhandeln.

Was früher Menschen als reife Personen selbst leisteten, ist heute zur belächelten Ausnahme geworden. Die Orientierung an den Schwächen und Unzulänglichkeiten der Massenmenschen hat die Erwartungen an den Einzelnen gesenkt, die an die Experten enorm gesteigert.

Unfall, Katastrophen wie Hochwasser oder Brand, Todesfälle: Wer ohne professionelle Hilfe auskommt, selbst die Probleme meistert, macht sich verdächtig, schert aus, weil er die öffentliche Intervention meidet oder zurückweist. Ein braver Bürger, scheint es, muss unmündig sein, muss in das Korsett der Hilfsmaßnahmen sich fügen, muss konsumieren, was die öffentlichen Einrichtungen offerieren.

Wird es bald keine Wahl mehr geben und zur Pflicht werden, sich dieser sogenannten Hilfe von Experten, einem Heer von allzu rasch und meist schlecht ausgebildeten Psychologinnen, die alle ja ihre Arbeit und ihren Verdienst wollen, Sozialarbeiterinnen und dergleichen mehr, zu bedienen? In der betreuten Gesellschaft kann die Eigenverantwortung zum Problem werden. Das ist der Widerspruch zur proklamierten Bildung, zum Gerede vom aufrechten Gang, vom Mündigen. Denn zu viele Maßnahmen nehmen den Menschen zuviel ab, im negativen Sinn. (Eines Tages wird ihnen das Leben abgenommen.)

Die Maxime der Risikominderung entwertet Freiheit, weil Freiheit immer Risiko bedingt. Der Trend zur Absicherung, zum „sicheren“ Leben, begrenzt das Leben selbst, bis es in einem sozialen Käfig nach strengen Regeln „normal“ ablaufen darf. Bis jede Eigenheit als Abnormität geahndet wird. Emanzipation? Ein Fremdwort in der verwalteten, versorgten Welt.