Unser Großer Bruder

/ Haimo L. Handl

Er werde das Geheimdienstwesen reformieren, verspricht Barack Obama. Er wolle die Datenspeicherung einschränken, verspricht Barack Obama. Herr Obama verspricht viel. Nicht nur zu Wahlzeiten. Auch dann, wenn sich Empörung und Kritik gegen die USA bzw. seine Politik äußern. Oder, wenn wieder mal ein freier Amerikaner vom freien Waffengesetz in einer Weise Gebrauch macht, die viele freie Amerikaner sich unfrei fühlen lässt.

Jetzt also Beruhigungsversuche nach der PRISM-Affäre, ausgelöst durch den Whistleblower Snowden, der von einigen als Dissident gesehen wird, von den Amerikanern, speziell den Patrioten, aber als Verräter. Ein guter Amerikaner ist Patriot (so, wie umgekehrt nur eine tote Rothaut eine gute war!).

Doch PRISM ist nur die Spitze des Eisbergs, die sichtbar geworden ist. Es geht um viel mehr. Um was es gehen könnte, vermögen nun vielleicht auch jene zu erahnen, die, aufgeschreckt durch diese Affäre, Orwells ‘1984’ erworben haben; die Verkaufszahlen sind in ungeahnte Höhen geschnellt. Orwell ist in. Es ist jedoch nicht anzunehmen, dass die Lektüre viel helfen wird. Sie lässt sich auf zwei Ebenen lesen. Einer konkreten der Handlung, der Techniken und Funktionen, und einer des Systems, der Denkweise, der Werteverschiebung, die einer Umkehrung gleichkommt.

Damals, unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg, war für George Orwell das westliche Rechts- und Staatssystem als demokratisches in Ordnung, getragen von Prinzipien der Aufklärung. Der Horror der Nazis und Stalinisten stand dem klar gegenüber. Seine Überlegungen über Massenverhalten, Indoktrination, Staatsterror und entsprechende ‘Führung’ flossen in seine Dystopie, die nicht nur eine Momentaufnahme war, sondern das Wesentliche von Unterdrückung und Ausbeutung, von Sklaverei, anvisierte und bloßstellte.

‘1984’ warnte davor, das Übel nur bei den besiegten Nazis und den nun im Kalten Krieg gegnerischen Kommunisten zu sehen, ging auf das ordinär allgemeine Problem ein von Führern und Geführten, Verführten und Verfolgten und Niedergehaltenen, Getäuschten und Belogenen. Er zeichnete das Angstklima durch Verlust der Privatheit, die perverse Ausdehnung des Öffentlichen, worin nur noch das Verordnete als Wahres gilt. Wo jede Eigenständigkeit als abnorm, systemabweichend verfolgt und geahndet wird. Wo jene, die zweifeln schon verloren sind. Wo schon ‘Gedankenverbrechen’ strafbar sind und mit Folter beantwortet werden. Wo DIE Wahrheit regiert und triumphiert. Wo eben Big Brother herrscht.

Nun, die Zeiten haben sich geändert. Das Sprichwort ist so vage wie es falsch ist. Denn nicht die Zeiten haben sich geändert, sondern Verhältnisse in den Zeiten. Die damals als demokratisch verstandene Welt ist nicht demokratisch, die Angst und der Horror als Mittel der Politik sind nicht den Diktaturen vorbehalten, sondern zu Prinzipien der sogenannten freien Welt geworden. Heute werden in diesen freien Staaten Gedankenverbrechen verfolgt und geahndet, werden Dissidenten weggesperrt oder auf der Flucht erschossen, werden Kriege als Humaninterventionen mit hinnehmbaren Kollateralschäden geführt, wird in einer Weise überwacht, wie es früher nicht mal als Albtraum vorstellbar war.

Die Informations- und Unterhaltungsindustrie versorgt die Massen mit Filter- und Ablenkungsware, die Alternativlosigkeit gilt als Gesetz, und Gesetzesbrecher werden gejagt, verfolgt, vernichtet. War im einen System die rigide Zensur das Kontrollmittel, ist im anderem, dem unsrigen, die eingeübte, gedrillte Selbstzensur, der vorauseilende Gehorsam, quasi das Regime des ES, weit erfolgreicher wirkend: Wer anders fühlt, weiß sich schuldig, konsultiert Psychologen oder Coaches oder fügt sich dem Schicksal. Es ist, wie Nietzsche es in seinem ‘Zarathustra’ aussprach: ‘Jeder will das Gleiche, Jeder ist gleich: wer anders fühlt, geht freiwillig in’s Irrenhaus. ‘Ehemals war alle Welt irre’ — sagen die Feinsten und blinzeln. Man ist klug und weiss Alles, was geschehn ist: so hat man kein Ende zu spotten. Man zankt sich noch, aber man versöhnt sich bald — sonst verdirbt es den Magen.’

Was den Magen verderben könnte ist die Erkenntnis, dass unsere Werte umgekehrt sind, eine Täuschung und ein Betrug. Dass wir den früheren Feinden, den barbarischen Nazis und Stalinisten, gleich geworden sind, wenn auch nicht so plump und vordergründig brutal, sondern geschminkt, charmant, technisiert – modern eben. Da helfen keine kleinen Korrekturen. Eine Systemänderung stünde an. Aber vor dieser Operation haben die Patienten Angst. Und folgen den falschen Ärzten.