Schönwelt

/ Haimo L. Handl

Wir leben in Gesellschaften, die sich keinen offenen Blick mehr gestatten, die verhüllen, verstecken, überdecken, camouflagieren, verklären, maskieren, täuschen, lügen. Im Sprachlichen äußert sich das durch einen intensiven Anstieg einer euphemistischen Sprache, der eine befremdliche Ansicht zugrundeliegt, dass über aktive Sprachregelung sozial auf das Gesellschaftsgefüge, auf Einstellungen und Verhalten, eingewirkt werden könne. Direkt hilft es zur eigenen Absicherung und Bekräftigung gewisser Idealvorstellungen, die das konforme, politisch-korrekte ‘moderne’ Gebaren ausweisen sollen.

Wenn aus den Alten ‘Senioren’ wurden, hat das nicht gleichwertig ihren realen Status in der auf jugendliche Dynamik orientierten Leistungsgesellschaft geändert. Wenn Ausländer kurze Zeit ‘Mitmenschen mit Migrationshintergrund’ genannt wurden, jetzt aber nicht einmal mehr so, weil es zu negativ sei, so ändert das ebenso wenig an der Problematik, wie bei jenen mit geringster Bildung, Angehörige der sozialen Unterschicht, die natürlich auch nicht mehr so genannt werden dürfen, deren Kinder und Jugendliche, weil aus ‘bildungsfernen’ Familien, breitestmögliche Förderungen erfahren sollen, um die gesellschaftlich organisierte Benachteiligung, die sie zu Opfern macht, auszubalanzieren, was aber offensichtlich nicht gelingt.

Im regulären Sprachverkehr deutschsprachiger Gesellschaften folgen immer mehr Vorgaben und Gebote sowie Verbote, die den politisch korrekten Sprachverkehr regeln sollen, um die unselige Geschlechterbenachteiligung aufzuheben oder wenigstens zu mindern. Das führt zur verkrampften Rede- und Schreibformen, die mehr Negatives signalisieren, als dass sie auf Einstellungen und Verhalten positiv einwirkten, läuft doch die soziale Praxis, auch bei äußerer Beobachtung der neuen Regeln, nicht unbedingt nach diesen Vorgaben. Wäre das der Fall, müssten wir nicht immer noch um gleichen Lohn für gleiche Arbeit streiten.

Die Sprachpolitik dient als politisches Substitut. Wenigstens dort wird etwas unternommen! Wirklich? Das Schönreden, das Umbenennen, das Maskieren gab es seit je. Besonders prominent war und ist diese Unkultur in Diktaturen und totalitären Gesellschaften. In der Sowjetunion prägte sich eine eigene euphemistische Sprache heraus, ähnlich wie im Nazistaat. Aber nicht nur dort. Für uns sind die Euphemismen aus der Nazizeit am Deutlichsten in Erinnerung. Die Erinnerungspflege scheint aber leider den alerten Blick zu einzuengen und zu lähmen, der aufmerksam euphemistische Bestrebungen in anderen Gesellschaften als auch in unserer Gegenwart aufmerken und kritisch entblößen bzw. aushebeln sollte. ‘Sonderbehandlung’ dürfte heute kaum mehr gebrauchbar sein, ebenso wenig ‘organisieren’ für stehlen.

Wenn aber z. B. aus einem verhaltensgestörten ein verhaltensauffälliges und dann ein verhaltensoriginelles Kind wird, hat sich ein verlogenes täuschendes Umtaufen, ein Euphemismus durchgesetzt. Da geht es um den Wohlklang oder das offensichtlich positive Bild, da geht es um grundlegende Werte, die mit dem semantischen Kern des Euphemismus transportiert werden, die sich in den Köpfen festsetzen sollen. Denn die Störung, die als solche vom Nichtgestörtem als dem Normalen unterschieden wird, eignet eine andere Wertstruktur, eine andere Auffassung von Eigenanteil bzw. Verantwortung.

Über das Bild des ‘Auffälligen’ erfolgt eine Abschwächung und Neutralisierung, die dann in positiv konnotierten Begriff des ‘Originellen’ schlussendlich jedes Verständnis von Versagen oder Hintenbleiben, von Abweichung oder Störung tilgt. Damit geht aber auch ein Verständnis einher, dass in einer pluralistischen Gesellschaft es kein persönlich bedingtes Abweichen, keine Störung mehr gibt, sondern nur gesellschaftlich bedingtes, bzw. nur noch unterschiedliche Grade von Originalität.

‘Betreuung’, kurz nach den horriblen Erfahrung der Nazibarbarei noch ein Unwort, ist zu einem positiven Leitbegriff geworden, der unsere ‘Therapy Culture’ kennzeichnet. Der laufende Entmündigungsprozess wird von den wenigstens wahrgenommen, die Leistungen der Betreuer, Coaches, Psychologen, Psychiater und Pfleger werden immer lauter gepriesen. Dass immer weniger selbst entscheiden, ist gewünscht, das entspricht der ‘Professionalisierung’.

Die Gleichstellungssucht und Vermeidung der Benennung von Schwächen, Krankheiten, Behinderungen führt noch nicht zu fatalen Experimenten wie Rollstuhlfahrerinnen als Servierpersonal, Blindtaube als Pilotinnen oder extrem Bewegungsbehinderte als Fremdenführerinnen oder Polizistinnen usw. usf. Aber der Trend zur Herausstreichung, dass es keine Behinderung gebe, sondern nur die gemeine, oft böse Benennung durch die Gesellschaft, die damit ausgrenzt und benachteiligt, ist eindeutig. Die Paralympics beweisen dies und helfen einen neuen Druck zu schaffen, es diesen Leistungsmaschinen, die einem alten Jugendhochleistungsbild nacheifern, zu folgen. (Ein ähnliches Phänomen ist, dass Kinder nicht mehr Kinder sein dürfen, sondern möglichst früh nutzenorientierte Lerner, und Alte nicht mehr Alte, sondern erfolgreiche Leistungserbringer.)

Abstrakta eigenen sich besonders gut für Euphemismen. Mit dem gesunkenen Bildungsstandard ist es noch einfacher, den Massen ein X für ein U vorzumachen. ‘Freiheit’, ‘Würde’ und ‘Menschenrechte’ können nur wenige auf Anfrage erklären oder deuten, aber fast alle führen es auf dem Banner ihrer Leitwerte. Vom Großen Bruder, den USA, bis in die neuen Mitgliedsländer der Europäischen Union beschwören viele diese Rechte und Errungenschaften, und erröten nicht ob der offensichtlichen Verlogenheit. In den Köpfen nistet z. B. das Kürzel KGB als Inbegriff des verbrecherischen Geheimdienstes, ähnlich böse wie die GESTAPO, während die eigenen, aber vor allem US-amerikanischen (z. B. NSA), in James Bond-Manier als ‘gut’ gelobt werden.

Die Aufdeckungen von WIKILEAKS und letzthin von PRISM durch Edward Snowden, vermochten diese grundsätzliche Bündnistreue, eine schier hündische Gefolgschaft, nicht wirklich ins Wanken bringen. Die Re-Education hat tatsächlich gegriffen, und in Europa, sei es im ‘Mutterland der Demokratie’, Großbritannien, im Land der freien Republik dank seiner umwälzenden Revolution, Frankreich, und in allen anderen, wird von Freiheit, Würde und Menschenrechten gequasselt, die durch die totale Überwachung, ärger als George Orwell es kurz nach dem 2. Weltkrieg zu visionieren vermochte, nicht wirklich in Frage gestellt oder beeinträchtigt werden.

In dem Maße, wie diese Ignoranz und dieses pseudorationale Legitimieren erfolgreich sind, kann man die Hörigkeit, die Resignation bzw. Kollaboration mit den inhumanen, menschenrechtsfeindlichen, undemokratischen Maßnahmen und Praxen ablesen. DAS ist die Schönwelt, ähnlich der ‘Schönen Neuen Welt’, die in einer fatalen Mischung mit der Welt aus ‘1984’ heute alles im Griff hat und niederhält. Aber da die Ketten in der westlichen Hemisphäre zwar hie und da klirren, aber anscheinend den Tanz ums goldene Kalb nicht schmerzlich behindern, wiegen sich die meisten frei. Frei in der ach so schönen Welt, der Schönwelt.